Kategorie Innovation & Technologie - 11. Juli 2018

Die Bauteilaktivierung als Baustein für die Stadt der Zukunft

Wie können wir nachhaltig bauen? Forscher versuchen sich nicht nur an der Entwicklung neuartiger Materialien, sondern inzwischen ganzer Systeme, um Energie – auch in Gebäuden – effizienter zu nutzen. Eines dieser Systeme ist die Bauteilaktivierung. Was verbirgt sich hinter dem Begriff, wie funktioniert die Technologie und welche Vorteile ergeben sich daraus für Bauträger und künftige Nutzer und Nutzerinnen?

Die Thermische Bauteilaktivierung (TBA) ist ein Begriff aus der Klimatechnik und bezeichnet Systeme, welche die Gebäudemassen zur Temperaturregulierung nutzen und zur alleinigen oder ergänzenden Raumheizung oder wahlweise Kühlung verwendet werden. Ein solches System ist zum Beispiel die Thermoaktive Decke (TAD; engl.: thermoactive ceiling).

Einsatz in Wien

In der Mühlgrundgasse im 22. Wiener Gemeindebezirk wird derzeit mit Mitteln der Stadt Wien sowie grundlegender Forschungsförderung des Bundesministeriums für Verkehr, Innovation und Technologie (BMVIT) eine Wohnhausanlage mit 155 Wohnungen errichtet. Das Besondere daran: Hier wird erstmals die Thermische Bauteilaktivierung zum Heizen und Kühlen mit Windenergie im sozialen Wohnbau eingesetzt. Die Technologie ist denkbar einfach, der Beton wird über eingebaute Rohrsysteme aktiviert, in denen je nach Heiz- oder Kühlzweck warmes oder kaltes Wasser fließt.

Bauteilaktivierung ist ein wichtiger FTI-Schwerpunkt im Programm Stadt der Zukunft und kann nun in einem wirklich großen Bauprojekt erstmals umgesetzt werden und damit einen wichtigen Schritt zur CO2-neutralen Stadt setzen. Realisiert wird die Wohnhausanlage vom gemeinnützigen Wohnbauträger Neues Leben in Kooperation mit dem Immobilienentwickler M2plus Immobilien GmbH.

„Gerade im Hinblick auf den verstärkten Nutzen regenerativer Energien ist es wichtig, dass die Stadt der Zukunft genügend Flexibilität und Speicherpotential hat. Deswegen war es ein explizites Anliegen unserer Forschungs-Ausschreibungen, die Stadt als Energieschwamm zu thematisieren“, sagt Michael Paula, Leiter der Abteilung Energie- und Umwelttechnologien im BMVIT. „Die interessanteste Idee dabei ist, die gesamte Masse der gebauten Stadt als Energiespeicher zu verstehen und zu verwenden“, so Paula weiter.

Funktion

Bei der Erbauung von Massivdecken oder gelegentlich auch von Massivwänden werden Rohrleitungen, meist Kunststoffrohre, aber auch Kapillarrohrmatten verlegt. Durch diese Rohre fließt Wasser als Heiz- bzw. Kühlmedium. Die gesamte durchflossene Massivdecke oder -wand wird dabei als Übertragungs- und Speichermasse thermisch aktiviert.

Heizen & Kühlen mit geringer Energiedifferenz

Über seine gesamte Fläche nimmt oder gibt das massive Bauteil die Wärme auf oder ab, je nach Heiz- oder Kühlfall. Aufgrund der vergleichsweise großen Übertragungsfläche können die Systemtemperaturdifferenzen niedrig bleiben. Das heißt, das Medium muss im Heizfall nicht so stark erwärmt werden wie beispielsweise das Wasser der Zentralheizung, deren Heizkörper eine wesentlich kleinere Übertragungsfläche bieten. Aufgrund dieser geringeren Vorlauftemperaturen können zum Heizen auch Wärmepumpen effizient eingesetzt werden.

 

Die Wärme für Beheizung und Warmwasser wird am Mühlgrund über Sole/Wasser-Wärmepumpen in Verbindung mit Erdwärme-Tiefensonden erzeugt, im Sommer wird das Sondenfeld regeneriert. Insgesamt 30 Erdsonden werden mit je 150 Meter gebohrt und verbaut. Ab einer Tiefe von rund 10 bis 20 Metern herrscht das ganze Jahr über eine gleichmäßige Temperatur von 10 bis 12 °C. Die entzogene Erdwärme wird im Heizfall mit Hilfe einer Wärmepumpe auf ein höheres Temperaturniveau gebracht. Im Kühlfall wird Wärme ins Erdreich eingebracht.

Speicherfunktion

Neu an diesem Projekt ist außerdem, dass überschüssige Windenergie ebenfalls in Beton gespeichert werden kann. Harald Kuster, erst kürzlich mit einem Team der Bauakademie mit dem Energy Globe 2018 Salzburg für seine Leistungen auf dem Gebiet der Bauteilaktivierung ausgezeichnet, brachte diese Idee in das Projekt ein und realisiert diesen wegweisenden Part des Baus gemeinsam mit Neues Leben und M2plus Immobilien. Mit seinem Unternehmen FIN – Future is now soll diese Erweiterung des Systems gelingen: „Das Projekt MGG22 trägt dazu bei, dass wir die notwendigen vorhandenen Betonbauteile eines Gebäudes mit einer einfachen Lösung sinnvoll als Speichermasse nutzen können. Hinzu kommt, dass wir erneuerbare Energie dann verwenden, wenn sie im ‚Überfluss‘ vorhanden ist“, so Kuster zu den Planungen.

Ein Windstrom-Lastmanagement sorgt dafür, dass der Strom zum Betrieb der Wärmepumpen weitestgehend aus Überschussproduktion stammt. 30 bis 40 % des Endenergiebedarfs werden für das Heizen und Kühlen benötigt. Dem Gebäudesektor kommt daher bei der Dekarbonisierung eine Schlüsselrolle zu. „Es gilt, den Anteil erneuerbarer Energie im Bereich der Gebäude drastisch zu steigern, dazu brauchen wir Speicher. Die Thermische Bauteilaktivierung sollte daher künftig auch in großen mehrgeschoßigen Gebäuden eingesetzt und für das Heizen und Kühlen optimiert werden“, so Sebastian Spaun, Geschäftsführer der Vereinigung der Österreichischen Zementindustrie (VÖZ).

Innovation im Wohnbau

Nur wenige Gehminuten von der Station Stadlau entfernt, ist das Bauprojekt im schnell und smart wachsenden Wiener Osten angesiedelt, der bis hin zur Seestadt Aspern wie kein anderes Gebiet als ein Versuchsfeld für die Neugestaltung urbanen Raums steht. Die Gebäude selbst werden im Niedrigenergiehausstandard errichtet, mit einem Heizwärmebedarf von 24 -28 kWh/m²a.

Mit der Forcierung neuer Technologien und der Erarbeitung wegweisender Projekte, erweisen sich die Programme des BMVIT immer wieder als innovativer Motor der Bauindustrie. Mit namhaften Partnern aus Wirtschaft und Forschung gelingt es, aktuelle Entwicklungen und den jeweils neuesten Stand der Technik in der österreichischen Bauwirtschaft zu verankern.

INFObox: Stadt der Zukunft – Das Programm Auf dem Weg zu Plus-Energie-Quartieren. Mit Stadt der Zukunft wird ein Programm etabliert, in dem neue Technologien, technologische (Teil-)Systeme, urbane Services und Dienstleistungen entwickelt werden sollen. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht dabei das Gebäude, das Quartier, der Stadtteil bzw. die gesamte Stadt. Dadurch soll ein Beitrag zur urbanen Modernisierung und Entwicklung von Städten, die höchste Ressourceneffizienz mit hoher Attraktivität für BewohnerInnen und Wirtschaft verbinden, geleistet werden.