Kategorie Innovation & Technologie - 27. September 2018
Nachlese Europäischer Radgipfel: Radverkehr als Selbstverständlichkeit?
Ob Mountainbike, Rennrad, Lastenrad oder Pedelec: Das Fahrrad ist nicht nur in der Stadt ein praktisches Fortbewegungsmittel. Es sich auf vielen Wegen im Alltag bewährt. Nur erkennt das noch nicht jeder. Trotz steigender Radfahrten stellt sich die Frage, wie man noch mehr Menschen dazu bringt, für alltägliche Wege auf das Rad umzusteigen und auch Firmen das Rad wieder als klimaschonendes Transportmittel schmackhaft zu machen.
Dies waren daher Hauptthemen des europäischen Radgipfels, bei dem mehr als 400 Teilnehmer aus 24 Ländern von Montag bis Mittwoch in Salzburg Gelegenheit hatten, bei Fachvorträgen, Ausstellungen und Exkursionen darüber zu diskutieren.
Veranstaltet wurde der Europäische Radgipfel gemeinsam von Stadt und Land Salzburg in Kooperation mit der Klimaschutzinitiative klimaaktiv mobil des Bundesministeriums für Nachhaltigkeit und Tourismus (BMNT) sowie dem Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie (BMVIT).
Die Klimastrategie und der „Masterplan Radfahren“ der Bundesregierung sehen eine Verdoppelung des Radverkehrsanteils in Österreich auf 13 Prozent bis 2025 vor. Ein Bündel von Maßnahmen sei dazu nötig, betonten die Tagungsteilnehmer beim Radgipfel. Es wäre ein wichtiger Schritt auch auf dem Weg zur Mobilitätswende.
Bei Kindern ansetzen
40 Prozent der Grazer Volksschüler haben zuletzt die freiwillige Radfahrprüfung nicht geschafft, berichtete etwa die „Kleine Zeitung“ am vergangenen Wochenende. Erschreckende Zahlen, die vermuten lassen, Kinder würde das Radfahren verlernen. Experten wollen nun gegensteuern – und fordern die Aufnahme von Radfahren in die Lehrpläne der Primar- und Sekundarstufe und die Einführung von Fahrradabzeichen ähnlich den Schwimmabzeichen.
„Wir brauchen radfahrkompetente Kinder, auch damit sie das Rad später in den Alltag einbauen können“, sagte Martin Blum, Leiter der Mobilitätsagentur Wien, beim Europäischen Radgipfel 2018 in Salzburg. Anfang April hat sich die österreichische Bundesregierung das Ziel gesetzt, den Anteil der Radfahrer am Verkehr bis ins Jahr 2025 auf 13 Prozent zu verdoppeln. Ein Ziel, das sich nur mit einem Bündel an Maßnahmen erreichen lässt – und eben in einem Punkt ein frühes Ansetzen erfordert.
„Kinder, die ihr Rad beherrschen und die automatisiert schalten und bremsen, können sich mit voller Aufmerksamkeit dem Verkehr widmen“, so Blum. „Aber es gibt heute Kinder, die können überhaupt nicht mehr Radfahren.“ Praktisch jeder Schulabgänger könne heute schwimmen, weil es in der Schule verpflichtend gelehrt werde. „Wir brauchen hier ein ähnliches Programm.“ Er empfiehlt die Aufnahme von Radfahren in die Lehrpläne, den Aufbau von Kompetenzen bei den Pädagogen und die Einführung von Fahrradabzeichen.
Für die gewünschte Verdoppelung des Radverkehrs brauche es freilich noch ganze andere Anstrengungen. Zur Herausforderung dürfte der Umbau der Städte werden, um Radfahrern, Fußgängern und dem öffentlichen Verkehr wieder mehr Platz zu geben. Zugleich fordert Blum gleiche Rahmenbedingungen bei der steuerlichen Begünstigung von Fahrrädern und Elektrobikes gegenüber Dienstautos. „Das Dienstwagenprivileg führt laut OECD für Österreich zu einem Steuerentgang von jährlich rund 1.500 Euro pro Fahrzeug. Das sind rund 600 Millionen Euro insgesamt.“
Deutlich mehr Geld müsse auch in die Rad-Infrastruktur investiert werden, etwa in breite und durchgängige Radwege, die getrennt vom Autoverkehr geführt werden. „Es brauche sichere und komfortable Radwege, sind sich die Experten einig. Dafür müsse auch Geld in die Hand genommen werden.
Von 2007 bis 2014 wurden vom Ministerium rund 210 Millionen in Radinfrastruktur investiert. Mit diesem Level könne das Ziel der Verdopplung des Radverkehrs nicht erreicht werden. Die Plattform „Radkompetenz Österreich“ empfiehlt ein Mitteleinsatz der öffentlichen Hand von 30 Euro pro Einwohner und Jahr. Das ergebe insgesamt mindestens drei Milliarden Euro bis 2030.
Der volkswirtschaftliche Nutzen von mehr Radfahrern auf den Straßen – Stichwort Gesundheit und Klimaschutz – lasse sich heute nicht mehr leugnen. „Was es jetzt braucht, ist ein gemeinsames Commitment aller Akteure, dass der Radverkehr eine vorrangige Aufgabe ist.“ Er hoffe in diesem Zusammenhang auf einen gemeinsamen Gipfel von Bund und Ländern im kommenden Jahr, so Blum.
Urbane Mobilitätslabore beim Radgipfel
Zur Sichtbarmachung dieser Anliegen machten sich bereits vor einer Woche drei der insgesamt fünf Urbanen Mobilitätslabore begleitet von der AustriaTech per Rad auf den Weg von Wien nach Salzburg. Eine beachtliche, aber auch standesgemäße Aktion, deren Ziel – der Radgipfel – nach vier Etappen pünktlich am Montag erreicht wurde. Im Gepäck der Lastenräder waren auch gleich die Utensilien für die Messe des Gipfels, auf der man sich ein Bild der einzelnen Aktivitäten der Urbanen Mobilitätslabore aspern mobil LAB, Thinkport Vienna und MobiLab Oberösterreich sowie dem ortsansässigen UML Salzburg machen konnte.
Wir sind im Landeanflug 🚴 #radgipfel2018 pic.twitter.com/L7cq8VXclH
— aspern.mobilLAB (@aspernmobilLAB) September 24, 2018
Im Rahmen der BMVIT‐Programminitiative „Mobilität der Zukunft“ erforschen fünf Reallabore seit 2017 neue Ansätze und Lösungen für urbane Mobilität. Ziel dabei ist es, in diesen experimentellen Umgebungen Innovationen schneller und passender in Städten zur Anwendung kommen zu lassen und unterschiedliche Nutzergruppen, wie Bürgerinnen und Bürger, Verwaltung und Politik, frühzeitig einzubinden. Die einzelnen Labore beschäftigen sich unter anderem mit Sharing, integrierten Mobilitätsangeboten, Stadtentwicklung und dem Wirtschaftsverkehr.
Allen gemein ist, dass das Radfahren dabei immer eine große Rolle spielt und als aktiver Teil der Mobilitätskette gestärkt wird. AustriaTech begleitet und unterstützt die Urbanen Mobilitätslabore seit Beginn der Initiative. „Aktive Mobilität ist ein wichtiges Element bei der Entwicklung neuer integrierter Mobilitätsangebote im städtischen Raum. Radfahren kann hier sowohl im individuellen Mobilitätsmix, als auch im Güterverkehr vielseitig eingesetzt werden, ist klimaschonend und gesundheitsfördernd.“ betont Michaela Topolnik von der AustriaTech.
Täglich 1.7 Mio. Radfahrten
Neue Zahlen zu täglichen Radfahrten präsentierte kürzlich der Verein VCÖ – Mobilität mit Zukunft. Täglich wird demnach das Fahrrad für mehr als 1,7 Millionen Fahrten als Verkehrsmittel genutzt. Das Potenzial ist noch größer. Mehr als sechs Millionen tägliche Alltagswege sind kürzer als zweieinhalb Kilometer, rund elf Millionen kürzer als fünf Kilometer, informierte der Verkehrsclub. Nicht alle, aber sehr viele dieser Wege lassen sich mit dem Fahrrad zurücklegen. Nicht nur deshalb fordert das auch durch das Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie (BMVIT) geförderte VCÖ einen rascheren Ausbau der Rad-Infrastruktur.
Von den mehr als 1,7 Millionen Alltagswegen, die mit dem Rad zurückgelegt werden, sind mehr als 400.000 Fahrten zur Arbeit und von der Arbeit nach Hause, rund 300.000 Radfahrten dienen dem Einkaufen, rund 150.000 Fahrten für Tag führen zur Schule bzw. Universität und wieder nach Hause. Rund 200.000 Radfahrten dienen Erledigungen und Besuche, für Hol- und Bringdienste sowie Freizeitziele, wie Sportplatz, Cafe oder Kino entfallen rund 650.000 Radfahrten. Nicht inkludiert sind sportliche Radtouren mit Rennrad oder Mountainbike.
Durch die immer beliebter werdenden Elektro-Fahrräder ist das Fahrrad auch in hügeligen Regionen ein gut geeignetes Verkehrsmittel. In Österreich gibt es bereits mehr als eine halbe Million Elektro-Fahrräder. 77 Prozent der Haushalte haben laut Statistik Austria zumindest ein funktionstüchtiges Fahrrad. Im Land Salzburg und in Wien gibt es sogar mehr Fahrrad-Haushalte als Auto-Haushalte. Rund fünf Millionen Erwachsene und Jugendliche über 15 Jahren verwenden zumindest manchmal das Fahrrad für Alltagswege, rund 2,3 Millionen treten häufig in die Pedale, macht der VCÖ aufmerksam. Nicht mitgezählt sind Kinder unter 15 Jahren.
Eine zentrale Rolle bei der Erhöhung des Radverkehrsanteils spielen auch die Betriebe und Unternehmen. Durch Mobilitätsmanagement kann der Anteil der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die mit dem Rad zur Arbeit fahren deutlich erhöht werden. Der Technologiekonzern Infineon hat es am Standort in Villach geschafft, dass bis zu 600 Beschäftigte mit dem Fahrrad zur Arbeit kommen. Beim Industriebetrieb Anton Paar bei Graz gibt es sogar einen Radfahrbonus von 1,70 Euro pro Tag, etwa jeder vierte Beschäftigte radelt zur Arbeit. Der VCÖ spricht sich dafür aus, dass betriebliches Mobilitätsmanagement stärker gefördert wird.
Radverkehrssicherheit
Auch die Sicherheit beim Radfahren wurde im Zuge des Radgipfels in den Fokus gerückt. Hauptansatzpunkt zum Selbstschutz ist natürlich weiterhin der Verweis auf das Tragen von Radhelmen. Während ältere Radfahrerinnen und Radfahrer entscheiden können, ob sie einen Fahrradhelm tragen wollen oder nicht, besteht in Österreich eine Helmpflicht für alle Kinder bis zum vollendeten 12. Lebensjahr. Ein immer noch nicht ausreichend bekannter Teil der hiesigen Straßenverkehrsordnung.
Nicht nur deshalb führen das Verkehrsministerium und die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt AUVA österreichweit Radworkshops in Volksschulen durch, um für die Sicherheit beim Radfahren, eine gute Ausrüstung des Rades, die Helmpflicht zum Schutz des Kopfes und das praktische Fahrtraining zu werben. Erst wenn Kinder das Radfahren sicher beherrschen, können sie sich auf den Straßenverkehr konzentrieren.
395 Einsatztage in 225 Volksschulen wird es dank der AUVA, dem Verkehrssicherheitsfonds und den Länderpartnern Niederösterreich, Steiermark, Kärnten, Burgenland, Salzburg und Tirol 2018 geben. Die Kosten für 80 davon werden vom BMVIT übernommen.
Trotzdem rät das Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie (BMVIT) allen Radfahrerinnen und Radfahrern, ganz gleich welchen Alters, dringend einen geeigneten Fahrradhelm zu tragen. Denn selbst ein Sturz mit geringer Fahrgeschwindigkeit kann so unglücklich verlaufen, dass ein Helm Leben retten kann.
Darüber hinaus ist die Infrastruktur und das Miteinander im Straßenverkehr entscheidend für die Sicherheit und Akzeptanz des Radverkehrs. Enge Gassen, mangelnde Seitenabstände überholender Autos, abrupt geöffnete Autotüren, eine Kreuzung und das plötzliche Ende des Radwegs: alltägliche Situationen des Radverkehrs, die auch immer öfter im Mittelpunkt von Forscherinnen und Forscher stehen.
Eine besonders perfide Falle für Verkehrsteilnehmende sind die Totwinkelunfälle beim Abbigen großer Fahrzeuge an städtischen Kreuzungen. Um Todesopfer bei Unfällen mit schweren Lkw oder Bussen beim Abbiegen zu verringern, läuft derzeit noch immer das Pilotprojekt des Kamerasystems „Mobileye“. Es soll für für Rundumsicht bei Bussen und Lkw sorgen und den toten Winkel eliminieren, der für andere Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer lebensgefährlich sein kann. Noch diesen Herbst ist mit der wissenschaftlichen Auswertung sowie ersten Ergebnissen des von der TU Graz geleiteten Projekts zu rechnen.
Ein neues Forschungsprojekt, Bicycle Observatory – Am Puls des Radverkehrs, widmet sich der multimedialen Datenauswertung zum Radverkehr. Wo und wann sind wie viele und welche RadfahrerInnen unterwegs? Welche Variablen beeinflussen den Radverkehr? Wie können die sehr unterschiedlichen Ansprüche und Verhaltensweisen von RadfahrerInnen erfasst und gezielt angesprochen werden? Bis September 2020 sollen unter anderem diese Fragen von einem interdisziplinären Projektkonsortium gemeinsam mit vielen Partnern erforscht werden.
Das Forschungsprojekt wird ebenfalls vom BMVIT im Programm „Mobilität der Zukunft“ gefördert und soll durch die Zusammenführung von technischen Sensor- und sozialwissenschaftlichen Erhebungsdaten ein mehrdimensionales, räumlich differenziertes Lagebild des Radverkehrs konzipieren und damit den Radverkehr als Gesamtsystem verstehen.
Auch ein Projekt der TU Berlin ist auf diesem Weg und hat mit SimRa: Sicherheit im Radverkehr sowie der Idee einer Citizen-Science-App vor, reale Gefahrenpunkte für RadfahrerInnen in der Stadt frühzeitig erkennen und dadurch effizient beheben zu können. So kann der Radverkehr quasi in Echtzeit zu mehr Sicherheit und damit auch zu mehr Attraktivität gelangen.