Kategorie Innovation & Technologie - 13. November 2015
Bilder fließen schneller als Wasser
Es sieht fast aus wie ein Computerspiel, bei man man verschiedene Levels erreichen muss. Doch hier geht es um ein bedrohliches Level, nämlich das, welches der Wasserpegel erreichen kann, wenn es zu Hochwasser kommt: Wie hoch wird das Wasser bei Starkregen steigen? Welche Gebiete in der Stadt sind betroffen? Und welche Schutzmaßnahmen kann man im Vorhinein oder während der Hochwasserbedrohung ergreifen?
Das sind typische Fragen, die sich Menschen im Hochwassermanagement stellen. Bisher nutzten Fachleute dazu unterschiedliche Computerprogramme: Eines, um die Hochwassersituation zu simulieren, ein weiteres, um Analysen durchzuführen und ein drittes, um die Berechnungen klar sichtbar zu machen, also für die Visualisierung der vielen Daten.
Nun haben Spezialisten vom Wiener Zentrum für Virtual Reality und Visualisierung (VRVis) eine Software entwickelt, die alle diese Schritte vereint – und von der Rechenkapazität nur die Grafikkarte des Computers braucht. „Das gibt es bisher am Markt nicht: eine Software für Simulation, Analyse und Visualisierung, ohne dass man zwischen den Programmen hin und her klicken muss“, erläutert Jürgen Waser, der seit sechs Jahren an dem Forschungszentrum, das im Comet-Programm von Technologie- und Wissenschaftsministerium gefördert wird, arbeitet.
Sind 30 Sandsäcke genug?
In seiner Dissertation am VRVis entwickelte Waser die Grundlagen für die nun laufende Software, gemeinsam mit Forschern der ETH Zürich und Hydrologen um Günter Blöschl von der TU Wien. Förderungen kamen u. a. vom Wissenschaftsfonds FWF und vom Wiener-, Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds, WWTF.
„Von Anfang an war die Stadt Köln unser Partner in der Entwicklung, und dort wird das Tool nun erstmals angewendet“, sagt Waser. Die Rheinstadt ist regelmäßig von Hochwasser bedroht, die letzten dramatischen Ereignisse waren in den Jahren 1993 und 1995. Seither investiert die Stadt Köln viel in den Hochwasserschutz – wie etwa 20 Kilometer mobile Schutzwände entlang des Rheinufers – und gilt als Vorreiter in Europa, was den Hochwasserschutz betrifft.
„Unsere Software ist eine Hilfestellung für das Management, um schnell und einfach zu sehen, welche Maßnahme was bewirkt“, sagt Waser. Wie bei einem Computerspiel kann man Maßnahmen anklicken: Wie viele Sandsäcke legt man an welche Stelle? Wo sollen Schutzwände stehen? Wo wäre ein Retentionsbecken sinnvoll? Wie fließt das Wasser, wenn man einen Gehsteig erhöht? Wo geht die Kanalisation bei Starkregen über? In der Demoversion sind all diese Dinge für die Stadt Köln bereits abrufbar, Geodaten der Straßen und Gebäude detailgenau sichtbar.
Beim einfachen Herumprobieren am Bildschirm wird klar, welche Folgen jede Maßnahme haben kann. Durch parallele Zeitlinien können die Benutzer verschiedene Szenarien vergleichen und sehen, ob es bei beginnendem Hochwasser nach zwei Stunden einen Unterschied macht, wenn an einer Stelle 30 oder 60 Sandsäcke gestapelt würden.
„Die detaillierteste Auflösung, die jedes einzelne Haus und seine Stockwerke abbildet, klappt derzeit in 60-facher Echtzeit: Das heißt, eine Stunde Überflutung wird in einer Minute am Bildschirm simuliert“, sagt Waser. Im Übersichtsmaßstab für ganze Stadtviertel können acht Stunden Überflutung in nur einer halben Minute dargestellt werden. „Die Geschwindigkeit übertrifft bisherige Modelle: Normalerweise dauerte es Stunden bis Tage, um solche Szenarien zu visualisieren“, sagt Waser.
Im Gespräch mit Gemeinden in der Wachau und im Marchfeld, die bereits an der Software für das Hochwassermanagement interessiert sind, war dies ein Punkt, der die Verantwortlichen begeisterte: Herkömmliche Methoden sind statische, ausgedruckte Pläne, die Ingenieure erstellen.
Wenn Änderungen auftreten, wie ein neues Gebäude im Dorf oder wenn die Gemeinde nächstes Jahr mehr Geld in den Hochwasserschutz investieren will, mussten die Verantwortlichen zum Ingenieur gehen, der die Dinge berechnete und Wochen später einen neuen Plan brachte. „Mit der Software braucht man keine Fachleute, sondern jeder kann sofort sehen, was welche Maßnahme bewirkt und was sich ändert, wenn sich die Ausgangssituation ändert“, betont Waser. In zwei bis drei Jahren soll die Software so ausgegoren und leicht bedienbar sein, dass jeder Bürger online darauf zugreifen und am Computer ausprobieren kann, wie stark sein eigenes Haus gefährdet ist und welche Maßnahmen für ihn wirksam wären.
Wie wirkt sich Starkregen aus?
Jetzt dient das Programm vorerst nur Verantwortlichen von Schutzmaßnahmen: Ab 2016 will es die Stadt Köln zum Einsatz bringen und tausende Szenarien simulieren, um das eigene Personal zu trainieren. Jeweils mit veränderten Eingangsdaten: Wo ist eine Bruchstelle in Schutzwänden? Wie groß ist die Bruchstelle? Wie hoch steigt das Wasser an? Wie wirkt sich Starkregen in welchem Viertel der Stadt auf ein Hochwasser aus?
„Starkregen ist ein ganz heißes Thema“, so Waser. Laut Klimaforschern werden die Extremwetterereignisse häufiger, daher muss in den Hochwassersimulationen nicht nur der Wasserlauf des Flusses berücksichtigt werden, sondern auch die Kapazitäten der Kanalisation, wenn mehr Wasser vom Himmel kommt, als der Kanal fassen kann. Auch hier zeigt die Software, welche Gebäude bei welchen Wassermengen gefährdet sind: Sind priorisierte Gebäude wie Krankenhäuser, Schulen oder Seniorenheime dabei? Was kann ich tun, um die Gefahr abzuwenden?
„Wir visualisieren auch die Möglichkeiten der Logistik: Es gibt verschiedene Depots für Schutzmaterial in Köln. Für jede einzelne Schutzmaßnahme berechnen wir die Kosten, die Fahrzeiten, die Aufbaudauer und den Wirkungsgrad“, sagt Waser. (Die Presse, Veronika Schmidt)