Kategorie Innovation & Technologie - 6. November 2018
Raus aus dem Rollstuhl – Exoskelett als Vision für dauerhaften Ersatz
Mithilfe eines Exoskeletts können Querschnittgelähmte laufen und sogar Treppen steigen. Schweizer Forscher der ETH Lausanne haben einen solchen Stützroboter in Zusammenarbeit mit der Athletin Silke Pan entwickelt und stellten ihn vor.
Früher war sie Zirkusakrobatin. Ein Unfall am Trapez setzte dieser Karriere ein Ende: Silke Pan sitzt seither im Rollstuhl und wurde Handbike-Athletin. Seit über zwei Jahren arbeitet sie außerdem mit Forschern der ETH Lausanne (EPFL) zusammen, die ein Exoskelett entwickeln – eine Art Stützroboter, der Querschnittgelähmten das Laufen ermöglicht.
Beim Cybathlon 2016, einem internationalen Wettbewerb der technischen Hilfsmittel unter Schirmherrschaft der ETH Zürich, trat Silke Pan mit der ersten Version des Exoskeletts von der technischen Hochschule EPFL an und holte im Hindernisparcours den 4. Platz. Seither hat das EPFL-Team um Mohamed Bouri vom Robotic Systems Laboratory das Gerät verbessert und präsentierte die neue Version mit dem Namen Twiice One in Lausanne den Medien.
Nicht nur für Athleten
„Das Gerät ist nicht nur für Athleten gedacht“, betonte Tristan Vouga von der EPF. Pan habe jedoch als Sportlerin ein gutes Körperbewusstsein und konnte den Entwicklern bei Tests des Geräts hilfreiche Rückmeldungen geben, die Verbesserungen des Exoskeletts inspirierten.
Die neue Version sei weniger klobig, schmaler und ließe sich von den Nutzern eigenständig an- und ausziehen, so Vouga. Auch die eingebauten Motoren (Aktuatoren), die die Bewegung der Knie- und Hüftgelenke antreiben, sind kompakter und stärker, so dass auch schwerere Personen das Exoskelett verwenden können. „Bei der vorherigen Version lag die Obergrenze bei 55 Kilogramm, bei der neuen bei 85 Kilo – das heißt die meisten Paraplegiker könnten unser Exoskelett nutzen.“
Pan trägt Helm, Krücken, sowie ein Batteriepaket auf dem Rücken und wird von einem Helfer begleitet, wenn sie mit dem Exoskelett unterwegs ist. In einer der Krücken sind die Knöpfe integriert, die ihr die Steuerung des Exoskeletts mit Wechsel zwischen drei verschiedenen Gangarten und Treppenauf- oder abstieg ermöglicht. Zwischen drei und acht Trainingseinheiten seien nötig, um den Gebrauch des Geräts zu lernen, schätzt Vouga. Je nach Körperhaltung könne man außerdem dosieren, wie viel Kraft man über die Arme selbst aufwendet, und wie viel man dem Exoskelett überlässt.
Langfristige Vision
Davon, dass Nutzer das Gerät am Morgen anlegen, den Tag über damit herumlaufen und es abends wieder ablegen, ist die Exoskelett-Entwicklung allerdings noch weit entfernt. „Dass diese Technik den Rollstuhl größtenteils ersetzt, ist eine langfristige Vision, aber wir sind noch nicht da. Mit den derzeitig vermarkteten Exoskeletten kann man etwa eine bis eineinhalb Stunden laufen“, sagte Vouga.
Das deutlich nähere Ziel, das er und seine Kollegen mit Twiice One verfolgen, ist Querschnittgelähmten regelmäßige körperliche Aktivität zu ermöglichen. „Wer im Rollstuhl sitzt, kämpft oft mit sekundären Gesundheitsproblemen wie niedrigem Blutdruck, Knochenschwund oder der Funktion des Verdauungssystems. Dank Bewegung mithilfe eines Exoskeletts lassen sich diese Probleme mildern“, so der EPFL-Doktorand.
Individueller anpassbar als Konkurrenzprodukte
Das Forschungsteam arbeitete für die neue Version des Geräts auch mit Firmen zusammen und ist dabei, selbst ein Start-Up zu gründen, um das Exoskelett weiter zu optimieren und auf den Markt zu bringen. „Es ist schwierig abzuschätzen, wie lange dieser Prozess dauern wird, aber wir reden definitiv eher von zwei Jahren als von zwei Monaten“, sagte Vouga.
Gegenüber der Konkurrenz der bereits erhältlichen Exoskelette wollen sich die EPFL-Forscher vor allem in zwei Punkten durchsetzen: Ihr Gerät sei leicht auf die individuellen Bedürfnisse des Nutzenden anzupassen. „Jede Rückenmarksverletzung ist anders und erzeugt unterschiedliche Anforderung an das Exoskelett“, erklärte Vouga. Außerdem wollen er und seine Kollegen die Kosten für die derzeitig vermarkteten Modelle deutlich unterbieten. Statt 80.000 bis 150.000 soll Twiice dereinst eher 30.000 bis 40.000 Schweizer Franken kosten (10.000 Schweizer Franken entsprechen rund 8.744 Euro, Anmerkung). „Ob wir dieses Ziel erreichen, ist allerdings schwer abzusehen.“