Kategorie Mobilität - 11. Januar 2018
Die späte Digitalisierung der ÖBB-Logistik
Von Alice Grancy
Wenn der Fahrgast nichts merkt, hat alles perfekt funktioniert. Er steigt am Wiener Hauptbahnhof in einen gut gewarteten, sauberen Zug, der pünktlich abfährt. Und ahnt nichts von dem logistischen Meisterwerk, das sich hinter den Kulissen abspielt. Am nahen Knoten Matzleinsdorf werden jeden Tag rund 11.000 Waggons für den Zugverkehr vorbereitet. Sie kommen, wenn nötig, in die Waschanlage, werden vorgeheizt, ihre Sanitärtanks entleert, Müll entsorgt, Wassertanks neu befüllt, Lebensmittel für das Catering eingeladen, in den Werkstätten auf Sicherheit gecheckt – und das alles möglichst ohne Staus und Leerzeiten. Erst dann werden sie zu Zügen „zusammengestellt“, wie es im Bahnjargon heißt.
Die Planung für all das passiert bisher mit Papier und Bleistift, Excel-Tabellen und der jahrelangen Erfahrung einzelner Bahnmitarbeiter. „Das funktionierte in den Köpfen weniger Leute, die viel Wissen dazu, was wann und wo notwendig ist, angesammelt haben“, sagt Georg Hauger vom Fachbereich für Verkehrssystemplanung der TU Wien. Doch der Verkehr nimmt weiter zu, auch durch die Öffnung des Bahnnetzes für andere Anbieter. Dadurch wird die Planung komplizierter – und muss transparent für Dritte werden, die ihre Züge ebenfalls waschen und mit Catering versorgen wollen.
Maßgeschneidertes Werkzeug
Künftig soll daher ein digitales Werkzeug helfen, schnell und einfach auf die Erfordernisse zu reagieren, etwa auch bei unerwarteten Ereignissen: Ist ein Waggon kaputt und muss repariert werden? Wie lässt sich eine Verspätung ohne Kapazitätsengpässe in die Abläufe integrieren? Die Software, die die komplexen Planungen vereinfachen soll, wird derzeit im vom Technologieministerium geförderten Forschungsprojekt „Simple“ entwickelt.
„Wir wollten kein Simulationswerkzeug von der Stange, sondern ein für den Verkehrsknoten Matzleinsdorf maßgeschneidertes. So etwas gibt es bisher nicht“, erklärt Norbert Pausch von der ÖBB-Infrastruktur. Er begann vor 44 Jahren als Lehrling bei der Bahn, arbeitete später als Fahrdienstleiter und führt seit mehr als zehn Jahren den Geschäftsbereich Bahnbetrieb der ÖBB-Infrastruktur. Dort sorgt er mit rund 6000 Mitarbeitern für einen reibungslosen Ablauf des täglichen Betriebs auf dem Schienennetz.
Und dieser soll sich künftig effizienter planen lassen: Die ÖBB erwarten sich sieben bis zehn Prozent Effizienzsteigerung, wenn sie ihre Infrastruktur besser ausreizen. Warum ist das nicht schon passiert? Die Digitalisierung der Bahn sei längst im Gange, heißt es. Informationen zu Loks, Waggons, Bahnsteigen, Gleisen, Signalen oder Versorgungspunkten mit allen notwendigen Details werden gesammelt. Das neue Werkzeug baut darauf auf, ist also nur ein nächster, logischer Schritt im Zeitalter der Industrie 4.0.
Die Forscher führen die vorhandenen Daten dabei in einem ersten Schritt in einer großen Datenbank zusammen. Der Verkehrsknoten soll dann auf dem Monitor anschaulich „wie eine Landkarte“ abgebildet werden. Wann fahren welche Züge? Wann sind welche Gleise von wo bis wohin belegt, wann frei? Wann kommt der Zug in die Waschanlage? Wann ist in der Werkstatt ein Zeitfenster frei?
Antworten auf all diese Fragen integrieren die Forscher gemeinsam mit dem Unternehmen EBP Schweiz AG, das schon bei den Vorbereitungen für den Wiener Hauptbahnhof mitwirkte, und einem Ziviltechnikbüro für Verkehrsplanung im Simulationswerkzeug. Das Ergebnis ist dann auf einen Blick erkennbar und auch die Folgen, wenn man einzelne Parameter verändert.
Datenbank statt Bauchgefühl
Die Herausforderung? „Die Anlagen sollen rund um die Uhr genutzt werden, ohne Rückstau, Totzeiten oder Verspätungen. Die Garage für die Wartung ist woanders als das Service für das Catering. Die Waggons müssen dorthin geführt werden, und das neben dem laufenden Betrieb. Das ist alles viel komplexer, als man sich das von außen vielleicht vorstellt“, sagt Hauger. Ersetzt der Computer also künftig bei der Bahn den Menschen? Die Software soll vieles vereinfachen. Wichtige Entscheidungen müssen aber auch weiter ad hoc getroffen werden – und dabei will man nicht auf die jahrzehntelange Erfahrung der Mitarbeiter verzichten.
Das Projekt soll im Sommer 2018 abgeschlossen sein. Die Erkenntnisse sollen den ÖBB helfen, rund eine halbe Million Euro im Jahr einzusparen. Und sie sollen sich auch auf andere Bahnhöfe der Welt übertragen lassen, wünscht sich TU-Forscher Hauger.