Kategorie Klima- & Umweltschutz - 14. Juni 2023
Dramatische Entwicklung der Ozeantemperaturen beunruhigt Wissenschaft
Besonders im Atlantik werden extreme Anomalien beobachtet. Der Beginn der El-Niño-Saison und fehlender Saharastaub könnten damit zu tun haben
Wissenschafterinnen und Wissenschafter vermeiden es normalerweise, öffentlich zu fluchen. In den vergangenen Tagen jedoch überschlugen sich in den sozialen Medien Stimmen, die nicht nur auf eine deftige Sprache zurückgriffen, sondern vor allem höchst alarmiert waren aufgrund der aktuellen Entwicklung der Meerestemperaturen. Grafiken, die viral gegangen sind, zeigen eine noch nie dagewesene Abweichung vom langjährigen Mittel.
I know there are a million people sharing temperature anomaly charts and maps lately, but there's a good reason for that. This is totally bonkers and people who look at this stuff routinely can't believe their eyes. Something very weird is happening. pic.twitter.com/vZ9eKEs22b
— Brian McNoldy (@BMcNoldy) June 10, 2023
Damit ist deutlich: Die extreme Erhitzung der Ozeane, die sich schon in den vergangenen Wochen abgezeichnet hat – und von Fachleuten schon lange prognostiziert wird –, scheint kein Ende zu nehmen. Rund ein Grad über dem Mittel seit 1982 lagen die durchschnittlichen Oberflächentemperaturen der Meere in den vergangenen Tagen, wie Daten der US-Ozeoanografie- und Wetterbehörde NOAA (National Oceanic and Atmospheric Administration) zeigen. Die Werte basieren auf Satellitendaten sowie Messungen von Schiffs- und Meeresbojen.
Mit 20,9 Grad Celsius lagen die globalen Durchschnittstemperaturen am 11. Juni, dem Tag, für den die aktuellsten Daten vorliegen, so weit weg vom langjährigen Mittel wie noch nie zuvor. Im Nordatlantik, wo die Temperaturen besonders in die Höhe schnellten, wurden 22,7 Grad vermeldet. In der tropischen Region des Nordatlantiks, wo sich üblicherweise Hurrikans entwickeln, wurden bereits 28 Grad gemessen, ein absoluter Rekordwert für den Monat Juni. Immerhin scheint die Abweichung nun einen Höhepunkt erreicht zu haben.
Hardly any relief, but the rapid rise in the North Atlantic sea surface temperature anomaly appears to have peaked: pic.twitter.com/HvFGx526RW
— Prof. Eliot Jacobson (@EliotJacobson) June 12, 2023
Die Aufregung ist gerechtfertigt, sagt der deutsche Ozeanograf und Klimaforscher Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung im Gespräch mit dem STANDARD: „Die Anomalien sind auf jeden Fall sehr weit außerhalb der normalen Schwankungsbreite. Es ist schon eine extreme Temperaturabweichung nach oben.“ Die höhere globale Meerestemperatur sei nachvollziehbar aufgrund der allgemeinen Erwärmungstrends, doch die starken Abweichungen gerade im Nordatlantik seien überraschend. „Dort ist es ungewöhnlich warm und wirklich extrem im Vergleich zu dem, was man bisher beobachtet hat.“
Höhere Temperatur, weniger Meereis
Zu den Anomalien bei den Ozeantemperaturen kommen weitere Rekorde, die Fachleute beunruhigen: Der globale Schnitt der Lufttemperaturen in einer Höhe von zwei Metern, ein Standardmaß der Meteorologie und Klimaforschung, lag in den vergangenen Tagen ebenfalls weitaus höher als je zuvor um diese Zeit. Statistisch betrachtet könne ein Wert nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:1,3 Millionen erreicht werden, rechnete der emeritierte Mathematikprofessor Eliot Jacobson vor.
Als wäre das nicht genug, kamen auch noch Hiobsbotschaften aus der Antarktis: Die Bedeckung mit Meereis erreichte zuletzt rekordverdächtige Tiefstwerte, was wiederum bedeutet, dass es im Ozean mehr Wasseroberfläche gibt, die Sonnenstrahlung aufnehmen kann. All das trifft zusammen mit dem Beginn einer neuen El-Niño-Periode, die zu einer Erwärmung der Meere und verstärktem Extremwetter führen kann. Vergangene Woche hat die NOAA offiziell den Beginn des El-Niño-Phänomens verkündet.
Marc Olefs, Klimaforscher bei Geosphere Austria (ehemals ZAMG), sieht derzeit drei Prozesse im Gange, die für die aktuellen Entwicklungen verantwortlich sind. Erstens fällt beim Übergang zu einer El-Niño-Phase die temperaturdämpfende Wirkung von La Niña, das in den vergangenen drei Jahre vorherrschte, weg. Das führt zu einem allgemeinen Temperaturschub. Zum Zweiten sorgt das Rekordminimum der Meereisfläche in der südlichen Hemisphäre für höhere Wassertemperaturen.
Schwefel, Winde und Saharastaub
Drittens führt paradoxerweise eine Klimaschutzmaßnahme zu einer verstärkten Sonneneinstrahlung über dem Atlantik und Pazifik: Seit 1. Jänner 2020 gilt ein neuer, sehr niedriger Grenzwert für den Schwefelgehalt in Schifffahrtskraftstoffen, was zu einer drastischen Abnahme der Aerosolkonzentration auf den Hauptschifffahrtsrouten geführt hat. „Die Aerosolschicht hatte einen kühlenden Effekt, der jetzt wegfällt“, sagt Olefs. „Das hat den Treibhauseffekt maskiert, der jetzt umso mehr verstärkt wird.“
Eine weitere Erklärung liefert Stefan Rahmstorf: „Möglicherweise haben sich subtropische Meereszirkulationen, die in der Region des Atlantiks, der sich besonders erwärmt hat, abgeschwächt.“ Die Subtropenwirbel sorgen dafür, dass im Westatlantik warmes Wasser mit dem Golfstrom nach Norden gelangt und auf der Ostseite kaltes Wasser nach Süden strömt. Ist dieser Kreislauf abgeschwächt, würde das bedeuten, dass der Westatlantik kälter und der Ostatlantik wärmer wird.
Michael Mann von der Universität Pennsylvania wiederum argumentiert, dass für diese Jahreszeit ungewöhnlich wenig Saharastaub über den Atlantik geblasen wird, was ähnlich wie das Fehlen von Schwefelaerosolen mit einer erhöhten Sonneneinstrahlung einhergeht.
El Niño and human-caused warming often combine to yield record new levels of global warmth. This is a major factor in what we're currently seeing:
🧵 pic.twitter.com/TPoU5H750w— Prof Michael E. Mann (@MichaelEMann) June 12, 2023
Über die genauen Ursachen für diese dramatischen Entwicklungen kann derzeit nur spekuliert werden, ebenso wie über die unmittelbaren Auswirkungen. Fest steht, dass mehr als 90 Prozent der überschüssigen Energie, die durch die anthropogene Klimaerwärmung entsteht, von den Meeren absorbiert wird. „Es ist somit mehr Energie im System“, sagt Stefan Rahmstorf. „Viele Klima- und Wetterprozesse basieren auf der Energie aus dem Ozeanwasser.“ Es seien also besonders starke atlantische Hurrikans möglich.
„Eine marine Hitzewelle ist nicht nur ein Problem für alle Meeresorganismen“, sagt Marc Olefs. „Es sind auch globale Wettereffekte zu erwarten.“ Extremwetterlagen wie Dürren und Starkregen gehören ebenso dazu wie kleinräumigere Unwetter durch labile Luftschichten. Durch eine Verlangsamung der Jetstream-Windströme im Sommerhalbjahr halten sich außerdem einmal eingestellte Wetterlagen länger.
Wie die Entwicklung weitergeht, lasse sich nicht genau prognostizieren, sagt Rahmstorf. „Außer dass die Erderwärmung langfristig über die nächsten Jahre und Jahrzehnte weitergehen wird, bis wir bei null Emissionen sind.“
Karin Krichmayr, DER STANDARD
Von La Niña zu El Niño: Meerestemperaturen steigen bedenklich