Kategorie Mobilität - 17. März 2016

Stadtplaner: „Das Auto ist Basis für jede verdammte Planung“

STANDARD: Soll die ganze Welt Kopenhagen werden?

Colville-Andersen: Bitte nicht! Das wäre verdammt langweilig.

STANDARD: 2007 haben Sie den Begriff „copenhagenize“ begründet. Worauf bezieht sich diese Kopenhagenisierung?

Colville-Andersen: „Copenhagenize“ heißt nicht, dass ich über die ganze Welt eine Käseglocke stülpen will, damit wir überall Kopenhagen haben. Das heißt bloß, dass ich das Erfolgsmodell der bizyklischen Mobilität, die in der dänischen Hauptstadt in den letzten zehn Jahren so stark zugenommen hat wie nirgendwo sonst, auch auf andere Städte übertragen möchte – und das mit einem guten, medientauglichen Slogan.

STANDARD: Warum ist Kopenhagen so ein Erfolgsmodell?

Colville-Andersen: In den Achtzigerjahren hat die europäische, westliche Stadtbevölkerung das Radfahren wiederentdeckt. Während der Trend in den meisten Großstädten weltweit als kurz aufflackerndes Nischenphänomen interpretiert und mehr oder weniger mit einem Lächeln geduldet wurde, hat man die Renaissance in Kopenhagen als Beginn einer neuen Ära verstanden. Von der ersten Minute an haben wie massiv in die Entwicklung investiert. Damit hat sich Kopenhagen, was die Radfahrmobilität betrifft, auf Platz 1 katapultiert.

STANDARD: Was heißt das in Zahlen ausgedrückt?

Colville-Andersen: 63 Prozent der Kopenhagener bewegen sich innerstädtisch mit dem Rad fort. Die interkommunale Radfahrquote – also jener Anteil der Menschen, die zwischen Kopenhagen und den 22 umgebenden Gemeinden verkehren – beträgt 45 Prozent. Das ist enorm.

STANDARD: Worauf ist diese hohe Quote zurückzuführen?

Colville-Andersen: Mit 200 strategischen Zählpunkten ist Kopenhagen die Stadt mit den besten Radfahrdaten weltweit. Diese Daten sind Basis für unsere Forschung und für unsere Experimente. Der wichtigste Aspekt ist der Bau von Radspuren und ausreichend breiten Radwegen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Einführung von grünen Ampelphasen – und zwar für Radfahrer und nicht für die Autofahrer! Und nicht zuletzt braucht man die entsprechende Infrastruktur wie etwa Radständer, Radgaragen oder etwa Haltegriffe und Relings an den Kreuzungen, damit die Füße auf den Pedalen bleiben können.

STANDARD: Gibt es eine Faustformel für die grüne Radwelle?

Colville-Andersen: Wir haben sehr lange herumexperimentiert. Je nach Dichte und Frequenz auf einer Radstrecke rechnen wir in der Regel mit 15 bis 20 km/h Fahrgeschwindigkeit.

STANDARD: Das klingt nach sehr konkreten Zahlen. Warum ist das nicht längst schon flächendeckende Realität?

Colville-Andersen: Wenn das bloß so einfach wäre! Die gesamte Verkehrsplanung in der westlichen Großstadt basiert auf mathematischen Algorithmen aus den Fünfzigerjahren, als alles, einfach alles auf das Automobil zugeschnitten war. Diese Verkehrsbarometer sind aus der heutigen Stadtplanung kaum wegzudenken, weil sie die Basis für jedes verdammte Planungs- und Simulationstool sind.

STANDARD: Lässt sich das nicht ändern?

Colville-Andersen: Doch. Wir arbeiten seit Jahren intensiv daran, die Ampelschaltung vom Fokus Auto wegzubringen. Wenn es uns gelingt, wird Kopenhagen 2018 die erste Stadt weltweit sein, deren Verkehrsmodell sich zur Gänze prioritär am Verhalten von Fußgängern und Radfahrern und sekundär am öffentlichen Verkehr orientieren wird. Das Auto steht dann an dritter Stelle. Das ist eine Neuschreibung der Geschichte der Mobilität.

STANDARD: Welche Städte haben Sie in den letzten Jahren bereits kopenhagenisiert?

Colville-Andersen: Amsterdam, Paris, Straßburg sowie ein paar Städte in den USA wie etwa Long Beach im Großraum Los Angeles. Demnächst starten wir ein Projekt in Detroit. Wenn das klappt, setzen wir damit neue Maßstäbe, denn Detroit muss sich nach dem Ende der Automobilindustrie und nach der Schrumpfung um fast 70 Prozent völlig neu erfinden. Hier ist die Implementierung eines funktionierenden Radsystems kein Lifestyle, sondern pure Notwendigkeit.

STANDARD: Wie lange dauert es, bis sich in einer Stadt ein neues Radsystem etabliert hat?

Colville-Andersen: Das hängt stark vom politischen Willen der Stadtregierung ab. Aber erfahrungsgemäß kann ich sagen: Die ersten Schritte von null auf fünf Prozent Radfahranteil in der Bevölkerung sind die schwierigsten. Wenn diese Hürde geschafft ist, ist der Rest ein Kinderspiel.

STANDARD: Also?

Colville-Andersen: Je nach Stadtgröße und Rahmenbedingungen gehen wir von ein paar Jahren aus. Aktuell arbeiten wir an einem Radwegenetz für Almetjewsk in Tatarstan in Russland. Das ist eine Stadt mit 150.000 Einwohnern, die ironischerweise von den umliegenden Erdölfeldern lebt. Letztes Jahr habe ich einen Anruf vom Almetjewsker Bürgermeister erhalten, der meinte: „Wir wollen in zwei Jahren Kopenhagen werden! Ja genau, Sie haben richtig gehört!“ Also bauen wir jetzt mitten in den Ölfeldern, wo heute noch niemand ein Fahrrad besitzt, Radwege.

STANDARD: Wie weit ist das Projekt?

Colville-Andersen: Letzten September haben wir das Konzept gemacht. Aktuell arbeiten wir an der Detailplanung. Im Mai starten die ersten Bauarbeiten mit einem groben Netz mit 50 Kilometern. Das Schöne ist: Wir haben hier wirklich eine Carte blanche, denn aktuell gibt es einen Radfahranteil von fast null.

STANDARD: Wie viel Prozent möchten Sie erreichen?

Colville-Andersen: In den ersten zwei Jahren fünf Prozent. Langfristig 20 Prozent. Das ist realistisch. Zwar nicht ganz Kopenhagen, aber immerhin.

STANDARD: Vor ein paar Jahren haben Sie den Copenhagenize-Index eingeführt. Was sagt dieser Index aus?

Colville-Andersen: Aktuell haben wir 120 Städte auf dem Radar. Wir messen mit Spezialisten vor Ort 13 unterschiedliche Parameter wie etwa die relative und absolute Länge des Radwegenetzes, die Anzahl der Radfahrer, den Ausbau der Infrastruktur, aber auch softe Facts wie etwa die Multimodalität, also den Verkehrsmittelmix in den zurückgelegten Wegen, die Unterstützung der Stadtregierung oder den politischen Willen. Einer der wichtigsten Faktoren ist der Gender-Split, also der Frauenanteil.

STANDARD: Wieso das?

Colville-Andersen: Kennen Sie die Geschichte mit den Kanarienvögeln in den Kohleminen? Die Kanarienvögel waren immer die Indikatoren für die Luftqualität in den Gruben. Kanarienvogel lebendig: Luft gut. Kanarienvogel tot: Luft schlecht. So ähnlich ist das mit den Rad fahrenden Frauen in der Stadt – und das meine ich jetzt wirklich nicht sexistisch. Je mehr Frauen und Mütter mit Kindern mit dem Rad unterwegs sind, desto größer ist das subjektive Sicherheitsgefühl und Wohlbefinden. Das ist ein essenzieller Indikator für die Radfahrqualität in der Stadt. Ein adoleszenter Testosteronbomber mit 40 km/h auf den Pedalen ist da eine weitaus schlechtere Auskunftsquelle.

STANDARD: Wo steht Wien auf diesem Index?

Colville-Andersen: Wien befindet sich aktuell auf Platz 16. Sehr gut unterwegs, aber mit Luft nach oben.

STANDARD: Wo ist Luft?

Colville-Andersen: Das Radwegenetz ist sehr gut ausgebaut. Die Infrastruktur wie etwa Stellplätze, Radgaragen und Ampelphasen lässt sehr zu wünschen übrig.

STANDARD: Die größte Überraschung auf der Liste?

Colville-Andersen: Ich freue mich, dass Barcelona und Buenos Aires unter den Top 20 sind. In beiden Städten gab es bis vor wenigen Jahren nur ein paar vereinzelte Radfahrer. Heute gibt es ein klares Bekenntnis zur Radfahrmobilität. Ein großes, ganz persönliches Wow ist für mich Paris. Hier wurden in den letzten paar Jahren mehr als zwei Millionen Fahrräder verkauft. Damit sagt uns der Konsument, dass das Konzept aufgegangen ist.

STANDARD: Ihr Wunsch für die Zukunft?

Colville-Andersen: Ich wünsche mir, dass ich in 20, 30 Jahren keinen Job mehr habe. Dass es keinen Bedarf mehr nach Copenhagenize gibt. Dass die Menschen dann von Buenos Aires, von Parisification, vom Detroit-Effekt sprechen. (Wojciech Czaja, 17.3.2016)


Mikael Colville-Andersen (48) gilt als einer der einflussreichsten Stadtplaner. „The Richard Dawkins of Cycling“ („The Guardian“) prägte die beiden Begriffe „Cycle Chic“ und „Copenhagenize“. Seit 2009 ist er CEO der von ihm gegründeten Copenhagenize Design Company.

Info: Zukunft der Stadt

Colville-Andersen war einer der Stargäste der Konferenz „Urban Future“ (2. bis 3. März in Graz), die sich mit der Zukunft der Metropolen beschäftigte. Ist der Wandel zu einer nachhaltigen Lebensweise mit weniger Energieverbrauch als bisher zu schaffen? Wissenschafter sehen das als zentrale Aufgabe, denn die Städte umfassen zwar nur zwei Prozent der Erdoberfläche, hier werden aber 75 Prozent aller Ressourcen verbraucht. Kooperationspartner der Konferenz waren Forschungsinstitute, Unternehmen, aber auch das Verkehrsministerium und das Lebensministerium.