Kategorie Innovation & Technologie - 28. August 2018
Cinematic Rendering: Trickfilmtechnik für die Organe
Die neue Technologie könnte die Bildgebung in der Medizin grundlegend verändern. Die Darstellung wird dreidimensional. Damit könnten nicht mehr nur Radiologen Krankheiten erkennen
Nicht mit einer Computermaus, sondern mit einem Xbox-Controller steuert der Radiologe Franz Fellner im Deep Space im Ars Electronica Center in Linz die Präsentation: Cinematic Rendering ermöglicht erstmals die fotorealistische Darstellung unseres Körperinneren. „Sehen Sie, wie nahe die Aorta an der Wirbelsäule liegt?“, ruft Fellner begeistert und zeigt mit dem Laserpointer auf eine Stelle in der farbigen 3D-Animation, die vor unseren Augen zu schweben scheint.
Es macht ihm sichtlich Spaß: Mit der Spielekonsole zoomt er in die Darstellung, wir fliegen gleichsam weiter in den Körper hinein. Am Beispiel eines Aneurysmas (krankhafte Gefäßerweiterung) zeigt er, was Cinematic Rendering zum Beispiel für die „Zugangsplanung“ einer chirurgischen Operation bedeutet. „Der Chirurg“, erklärt Fellner, „will’s plastisch. Da hat er eine räumliche Vorstellung. Nicht wie wir Radiologen, die wir Schichtbilder lesen.“
Das Ende der Grautöne
Zum Vergleich zeigt er das Schichtbild einer Handfraktur, wie wir es von Röntgenbildern kennen. In Grautönen, nicht dreidimensional, für den Laien, also den Patienten nicht deutbar. Aber auch für den Chirurgen manchmal nicht eindeutig, wie Fellner anhand einer Abbildung eines haarfeinen Kieferbruchs vorführt: Erst in der Cinematic-Rendering-Darstellung wird die Tiefeninformation so genau, dass der Riss, also der Bruch, erkennbar wird.
Cinematic Rendering ist kein neues Bildgebungsverfahren, sondern die Nachbearbeitung bereits vorhandener Aufnahmen eines Magnetresonanztomografen (MRT) oder eines Computertomografen (CT). Cinematic Rendering ist eine Software, die gemeinsam von IT-Experten und Medizinern entwickelt wurde. Der Informatiker Klaus Engel und der Mathematiker Robert Schneider von Siemens Healthineers haben es zusammen mit Franz Fellner vom Kepler-Klinikum Linz geschafft, aus der radiologischen Befundungssoftware „Syngo.via“ und den CT- und MRT-Rohdaten fotoreale, dreidimensionale Abbildungen des Patienten zu generieren.
Der Herr der Ringe
„Es entstehen für die Patienten keine zusätzlichen Belastungen durch Strahlen“, erklärt Engel. „Bei Cinematic Rendering werden bereits vorhandene Daten neu dargestellt, das können auch Aufnahmen von Geräten anderer Hersteller sein.“ Inspiriert habe ihn unter anderem die Figur des Gollum aus „Herr der Ringe“, also Kinotechnologie. Animierte Figuren wirkten im Film so natürlich, obwohl sie digital modelliert und erst nachträglich in die Szenen eingefügt werden. Diese Technik namens bildbasierte Beleuchtungsberechnung habe man sich zum Vorbild genommen. „Das Licht ist sehr komplex in seiner Ausbreitung“, erklärt Engel.
In den bisherigen medizinischen dreidimensionalen Bildgebungsverfahren würden diese speziellen Lichteigenschaften nicht berücksichtigt. Bei Cinematic Rendering hingegen simuliere ein Algorithmus die komplexe Interaktion der Photonen mit der gescannten Abbildung eines Patienten, also die wichtigsten aller möglichen Lichtausbreitungspfade. Zur Definition der Lichtumgebung würden sogenannte High Dynamic Range (HDR) Light Maps eingesetzt, um eine möglichst natürliche Beleuchtungssituation zu erzeugen.
Optimierte Algorithmen
Dahinter steckten ein enormer Rechenaufwand und optimierte Algorithmen, denn es müssten – je nach Bildqualität – hunderte, beziehungsweise tausende Photonenwechselwirkungen pro Pixel berechnet werden. „Nicht umsonst haben die Pixar Studios bei ihren Animationsfilmen zuerst Spielzeuge wie in ‚Toy Story‘ als Protagonisten ausgewählt. Die sind aus Metall oder Plastik und haben spiegelnde Oberflächen. Das ist einfacher darzustellen als menschliche Haut, durch die das Licht dringt“, erzählt Engel.
Aber genau das werde jetzt durch Cinematic Rendering möglich: zu zeigen, wie Licht in das Gewebe eindringt und dort in die verschiedenen Richtungen streut. Das Ergebnis sind die nahezu völlig realistischen Bilder von Frakturen und Organen samt ihrer bis ins Kleinste gehenden Gefäßverästelungen. „Das sieht aus wie Körperwelten, allerdings am lebenden Menschen, nicht an der Leiche.“
Das könnte einerseits die Arzt-Patienten-Kommunikation um einiges leichter machen: „Wir können sehr anschaulich zeigen, wie eine Fraktur verläuft oder wie ein Tumor wächst“, sagt Fellner. Andererseits würde für die Mediziner selbst die Planung und Vorbereitung komplexer gefäßchirurgischer, neurochirurgischer oder gesichtschirurgischer Eingriffe besser und einfacher. Engel bringt das Beispiel eines wenige Monate alten Kindes, das aufgrund einer Verwachsung am Schädel mit Hirnschäden zu rechnen gehabt hätte und unter anderem dank der OP-Planung mit Cinematic Rendering in Linz erfolgreich operiert wurde.
Topografie der Aorta
Aber auch für Studierende der Medizin ergäben sich neue Möglichkeiten, mehr über Anatomie zu erfahren, aber nicht nur. „Der Betrieb im Seziersaal ist natürlich sehr teuer und da stellt sich die Frage, ob es nicht effizienter ist, für bestimmte Berufsgruppen mit Cinematic Rendering zu lehren“, so Fellner. „Wir können beispielsweise im Detail erkennen, wie sich die Verästelungen der Lunge ausbreiten, oder die Topografie der Aorta klären“, sagt Fellner.
Davon werden auch andere medizinische Berufe wie Physiotherapeuten und medizinisches Pflegepersonal, die sonst keinen Zugang zum Seziersaal haben, profitieren, ist er überzeugt. „Wir haben am Ars Electronica Center 90 Physiotherapeuten und -therapeutinnen sowie medizintechnische Berufe in Ausbildung. Bis 2021 soll das neue Campusgebäude der Kepler-Universität fertiggestellt sein, damit wir auch dort mit Cinematic Rendering unterrichten können.“ Auch kombinierte Anatomie-Pathologie-Kurse würden so möglich. „Wir können schon in der Vorklinik interdisziplinär arbeiten“, betont Fellner.
Hologramm & Datenbrille
„Vorstellbar wäre, dass die Unterrichtenden einmal mit den Studierenden um ein Hologramm herumstehen werden“, ergänzt Engel. Oder dass seine Daten bei einer OP direkt auf den Patienten projiziert werden und der Operierende mit seiner Datenbrille zum Beispiel den zu entfernenden Tumor sieht, bevor die Operation begonnen hat. Das ist allerdings noch Zukunftsmusik. Aber die Vorstufe, zum Beispiel der Einsatz von dreidimensionalen Bildern im Rahmen von Tumorboard, ist heute schon möglich. Bisher hatten Radiologen die Hoheit über die Bilddeutung, bald könnten auch andere Fachrichtungen Einblick bekommen.
Ein weiteres Einsatzgebiet von Cinematic Rendering ist die molekulare Bildgebung, bei der – etwa anhand von PET-CT-Bilddaten – die erhöhte Stoffwechselaktivität der Krebszellen sichtbar gemacht wird. Ebenso möglich ist die Darstellung von Harnsäure auf molekularer Ebene auf Basis von Dual-Source-CT-Daten, die Gichterkrankungen sichtbar machen. Auch dynamische Prozesse wie zum Beispiel der Blutfluss im Körper können visualisiert werden. Wird mit all diesen neuen Möglichkeiten die Berufsgruppe der Radiologen überflüssig werden? Professor Fellner lacht. „Ich kann mit Cinematic Rendering die Patientendaten beliebig schneiden, drehen, zoomen. Aber ich muss wissen, was ich suche.“
Tanja Paar, DerStandard