Kategorie Mobilität - 20. November 2015
Den Straßenverkehr mit Kinderaugen sehen
Wer die Welt erkunden will, schaut nicht immer nach links und rechts. Kinder gelten als die schwächsten Teilnehmer im Straßenverkehr und damit als besonders unfallgefährdet. An der FH St. Pölten wollten Wissenschaftler besser verstehen, worauf Kinder achten – und worauf nicht. Dazu rüsteten sie Volksschüler im Projekt „Augen auf!“ mit Eyetracking-Systemen aus und begleiteten sie gemeinsam mit Verkehrsplanern auf ihrem Weg zur Schule.
„Dabei zeigte sich, dass Kinder ihre Umwelt oft ganz anders wahrnehmen als Erwachsene“, berichtet Johanna Grüblbauer vom Österreichischen Institut für Medienwirtschaft der FH St. Pölten. Die Forscher untersuchen hier üblicherweise Medienprodukte auf ihre Lesefreundlichkeit. Was sehen sich Leser zuerst an? Wie schwenkt der Blick über eine Zeitung oder Werbung? Was wird als spannend, was als verzichtbar wahrgenommen?
Die Geräte dazu sind in den letzten Jahren deutlich handlicher geworden. „Früher brauchten wir eine Kappe, heute reicht eine Brille aus“, sagt Grüblbauer. Freilich keine ganz normale Brille: In der Mitte sitzt eine Außenkamera, die die Umgebung aufzeichnet. Und dann wird jedes Auge noch einmal einzeln aufgenommen, der Weg der Pupille genau verfolgt. Die Forscher haben das System nun erstmals auch genutzt, um die Verkehrssicherheit zu erforschen.
Landkarte für Gefahrenstellen
Zunächst ging man die Strecken zu Fuß ab, die kleinen Probanden erläuterten, was ihnen unterwegs gut oder weniger weniger gut gefiel und was sie für gefährlich hielten. Auch häufig genutzte Wege wie jener zum Sportplatz wurden dabei erfasst. So identifizierten die Wissenschaftler mögliche Problemstellen und kennzeichneten sie auf einer Landkarte.
Dann kam das mobile Eyetracking zum Einsatz. Die zwischen sechs und zehn Jahre alten Schüler hätten zwar zuerst oft geschmunzelt, dann aber meist schnell auf die Brille vergessen. „Wir haben die Kinder zu Hause abgeholt, sind mit ihnen zu Fuß gegangen, dazwischen auch mit dem Bus gefahren“, sagt die promovierte Publizistin Grüblbauer. Die Forscher hielten sich dabei bewusst im Hintergrund.
„Erwachsene erledigen vieles automatisiert, ohne viel darüber nachzudenken. Bei Volksschülern ist das Sehen noch nicht fertig ausgebildet, sie verarbeiten Sinneseindrücke langsamer“, so die Forscherin. Ihnen fehle es an Erfahrungen, sie müssten ständig viel Neues lernen. Dadurch lassen sie sich auch leicht ablenken. Außerdem können sie Entfernungen und Geschwindigkeiten noch nicht gut abschätzen: Sie nehmen Fahrzeuge oft erst deutlich später wahr.
Dazu kommt freilich, dass sie auch körperlich klein sind: Dadurch nehmen sie ihre Umgebung aus einer ganz anderen Perspektive, nämlich von deutlich weiter unten, wahr. Nicht alles, was Erwachsene auf den ersten Blick bemerken, ist auch für sie erkennbar. „Dabei können Hindernisse wie ein Strauch, ein parkendes Auto oder eine Mülltonne, über die ein Erwachsener problemlos hinwegsieht, die Sicht versperren“, so Grüblbauer.
Straßen ohne Gehsteig
Volksschulen in Krems, Grafenwörth und Fels beteiligten sich. Dass in drei ländlichen Gemeinden getestet wurde, war neu; die meisten Studien zu Verkehrssicherheit gebe es bisher in der Stadt. Dabei seien mitunter auf dem Land ganz andere Aspekte wesentlich: Kreuzungen sind meist weniger geregelt. Es gibt weit mehr Ein- und Ausfahrten. Jedes zweite Kind passiert mehrfach uneinsichtige Hauseinfahrten, achtet dabei aber nicht auf Autos, die den Gehsteig queren.
Auf 40 Prozent der getesteten Schulwege gibt es – zumindest teilweise – keinen Gehsteig. Die Autos nähern sich auf Hauptverkehrsstraßen mit hohen Geschwindigkeiten. Weichen die Kinder Hindernissen wie einem parkenden Auto aus, wird es mitunter gefährlich: „Sie gehen einfach vorbei. 90 Prozent drehen sich nicht noch einmal um, bevor sie die Fahrbahn betreten. Es gibt kaum ein Bewusstsein für die Gefahr, dass sie dabei übersehen werden könnten.“ Absurdes Detail: „An einer Stelle sollte ein A-Ständer darauf hinweisen, dass Autofahrer auf Kinder Rücksicht nehmen sollen. Genau dieser A–Ständer versperrte den Kindern die Sicht“, so Grüblbauer.
Das Beispiel mache zugleich aber auch deutlich, dass zum Teil mit sehr einfachen Maßnahmen viel erreicht werden kann: Sträucher, die Kinder in der freien Sicht behindern, müssten regelmäßig geschnitten werden. An besonders unübersichtlichen Stellen empfahlen die Forscher 30-km/h-Zonen. Auch der Platz vor der Schule dürfe nicht vergessen werden: Er ist als Treffpunkt und als Ort, an dem Eltern ihre Kinder aus- und einsteigen lassen, besonders wichtig.
Für Forschung begeistern
Ob die Empfehlungen nun tatsächlich in die Praxis umgesetzt werden? Die Forscher hoffen es. In Diskussionen wurden jedenfalls bereits Lehrer und Eltern geschult. Ältere Schüler der HTL Krems und der Neuen Mittelschule Fels-Grafenwörth übernahmen Patenschaften für jüngere und erklärten, wie man im Verkehr „richtig schaut“. Schließlich war es der explizite Auftrag des vom Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie geförderten Projekts, zugleich auch Schülern die Freude an Forschung nahezubringen.
Der Felser Bürgermeister sei jedenfalls bei der Präsentation der Ergebnisse begeistert gewesen, mit welch geringem Aufwand deutliche Verbesserungen möglich sind. (Von Alice Grancy, Die Presse)