Kategorie Innovation & Technologie - 16. November 2015
Transporter mit Geweih: Strom-Lkw vor Praxistest
Der Güterverkehr in Deutschland wächst. Doch nur einen Teil dieses Zuwachses kann die Schiene übernehmen. Lkw-Strecken unter Strom könnten helfen, mehr Transporte ohne zusätzlichen CO2-Ausstoß zu bewältigen. Bald wird das in der Praxis getestet.
Es ist ein seltsamer Anblick. Ein Stück Autobahn in der Uckermark, zwei Spuren, kein Verkehr. Rechts am Fahrbahnrand, direkt neben der Leitschiene, säumen Strommasten die Strecke. Im November-Nieselregen nähern sich zwei Lastwagen. Sie sehen aus, als trügen sie Geweihe auf dem Führerhaus. Es sind Stromabnehmer, die sich an eine Oberleitung drücken.
Was hier auf einer 2,2 Kilometer langen Teststrecke des Siemens-Konzerns in Templin-Groß Dölln – 60 Kilometer nördlich von Berlin – zu beobachten ist, könnte schon bald Realität auf einem echten Autobahnabschnitt werden. Nach Tausenden Probefahrten mit mehreren Lkw-Prototypen seit 2011 sagt Siemens-Projektleiter Martin Birkner: „Wir sind bereit zur öffentlichen Erprobung.“
Förderprogramm für E-Mobilität
Im übernächsten Jahr soll es so weit sein. Das deutsche Umweltministerium hat die Verwirklichung vor wenigen Tagen mit einer Bekanntmachung für sein Förderprogramm zur Elektromobilität auf den Weg gebracht. Interessenten sollen für die geplante Pilotstrecke bis Ende Februar 2016 kurze Projektbeschreibungen einreichen. Nach Auswahl eines oder mehrerer Projekte könne im zweiten Halbjahr 2016 dann die konkrete Planung beginnen und 2017 die Installation, sagt Randolf Schließer, der sich beim Projektträger VDI/VDE Innovation + Technik im Auftrag des Ministeriums um das Vorhaben kümmert.
Der Ausgangspunkt für die Forscher war die Frage: Wie kann der wachsende Güterverkehr bewältigt werden, ohne gleichzeitig den Ausstoß des Treibhausgases Kohlendioxid weiter in die Höhe zu treiben? In Deutschland rechnet die Regierung mit einem Plus von rund 40 Prozent im Zeitraum 2010 bis 2030. Nach dieser Prognose wird die Güterbahn aber nur ein Fünftel des Zuwachses übernehmen können. Die meisten Transporte kommen auf die Straße.
Da liegen Lkw mit Elektroantrieb nahe – vor allem, wenn der Strom aus erneuerbaren Energien wie Solar- oder Windkraft kommt. Weitere Vorteile: Elektromotoren arbeiten weitaus effizienter als Dieselmotoren und verpesten dort, wo sie unterwegs sind, nicht die Luft. Weil aber heutige Akkus für Langstreckentransporte noch nicht stark genug sind und auch zu groß, besann man sich bei Siemens auf die bewährte Bahntechnik mit Oberleitung.
Volvo und Scania mit an Bord
In Zusammenarbeit mit den Fahrzeugbauern Volvo und Scania hat der deutsche Elektrokonzern verschiedene Hybridvarianten aus Elektro- und Verbrennungsmotor ausprobiert. Je nach Dimension der Batterie und Stärke des E-Motors fahren die Lkw auch ohne Strom aus der Leitung eine Weile weiter elektrisch.
Reicht die Leistung nicht mehr, schaltet sich der Dieselmotor hinzu. Will ein Elektro-Lkw überholen, senkt sich der Stromabnehmer, der Fahrer kann auf die Überholspur ausscheren. Nach dem Wiedereinscheren nach rechts führen Sensoren den Stromabnehmer wieder an die Leitung.
Der Praxistest soll zeigen, ob sich die Technik auch auf einer öffentlichen Straße bewährt. Aus Sicht von Projektbetreuer Schließer wäre es am besten, wenn der Anlagenbauer, ein Transportunternehmen und das Bundesland oder die Kommune, in der die Pilotstrecke entstehen soll, zusammen eine Bewerbung abgäben.
Siemens-Forscher Birkner setzt darauf, dass die Länder geeignete Strecken vorschlagen. Außer einem „möglichst langen Autobahnstück“ könnte das auch eine Pendelstrecke zwischen einem Hafen und dem Schienenanschluss sein. In der Nähe des Hafens von Los Angeles etwa ist ein solches Demonstrationsprojekt bereits im Bau.
Kosten-Nutzen-Analyse entscheidend
Über den Erfolg der E-Lastwagen dürfte am Ende entscheiden, ob und wie schnell die Zusatzkosten für Infrastruktur und Fahrzeuge durch geringere Energiekosten im laufenden Betrieb ausgeglichen werden können. Bisherige Studien gingen davon aus, dass ein Kilometer Autobahn-Elektrifizierung bis zu 2,5 Mio. Euro koste, berichtet Birkner.
Der Projektleiter nimmt seine Zuversicht auch aus einem Blick in die Vergangenheit: „Die Elektrifizierung der Bahn hat sich vor 100 Jahren ganz ähnlich entwickelt.“ Zum Abtransport der Kohle aus den Bergwerken seien damals in der Niederlausitz die ersten Pendelstrecken unter Strom errichtet worden. Heute sind alle wichtigen Eisenbahnstrecken in Deutschland voll elektrifiziert.