Kategorie Innovation & Technologie - 11. Juli 2019
Mehr als Rechnen: Wie Mathematik unseren Alltag bestimmt
Die Emotionen schlagen jedes Jahr aufs Neue hoch: Die Mathe-Matura steht an, es heißt Lernen, Lernen, Lernen. Damit aber nicht genug: Sind die Prüfungen geschlagen, stehen regelmäßig die Schwierigskeitsgrade derselben auf dem Prüfstand und werden nochmal heiß diskutiert. Mathematik polarisiert nicht nur einmal.
Das Fach scheint kaum jemanden kalt zu lassen. Es soll sogar Menschen geben, die das Fach lieben. Für die meisten jedch nach wie vor der blanke Horror. Längst vergangene Matheprüfungen sorgen selbst im höheren Alter noch verlässlich für seichte Albträume.
Was aber ist Mathematik? Warum ist dieses Fach nach wie vor so wichtig und warum sollte das für ALLE interessant sein?
Aufklärungsversuch via Wikipedia: Mathematik sei eine Wissenschaft, „welche aus der Untersuchung von geometrischen Figuren und dem Rechnen mit Zahlen entstand. […] Heute wird sie üblicherweise als eine Wissenschaft beschrieben, die durch logische Definitionen selbstgeschaffene abstrakte Strukturen mittels der Logik auf ihre Eigenschaften und Muster untersucht“. Eine befriedigende Beschreibung? Eher nicht. Wenn das DIE Mathematik ist, dann mag das anspruchsvoll sein, aber noch lange nicht interessant.
Mathematik als Teil unserer Kultur
Dabei ist Mathematik ein wesentlicher Teil unserer Kultur: Die Menschheitsgeschichte beginnt in ersten kulturellen Anwandlungen mit geometrischen Mustern und Aufzählungen, lange vor den Anfängen der Schrift.
Mathematik ist voller großer Rätsel, schwieriger Probleme, großer Entdeckungen. Die Wissenschaft ist geprägt von historischen Wettbewerben um die Entwicklung von Formeln und von wohlklingenden mathematischen Sätzen, wie der Gauß’schen Glockenkurve.
Große Köpfe und bemerkenswerte Menschen haben die Wissenschaft stetig vorangetrieben. Von Pythagoras, Archimedes, Kepler, Euler über Gauß, Cantor, Noether bis zum neuen deutschen Mathegenie Peter Scholze, gefeierter Wissenschaftsstar und letztes Jahr mit gerade 30 Jahren mit dem bedeutendsten Mathepreis der Welt – der Fields-Medaille – ausgezeichnet.
Es ging seit der Antike bei der Mathematik stets auch um große Kunst, die Schönheit der Formen, geometrischen Figuren in der Natur und deren Übernahme in der Architektur. Klassische Heldengeschichten vom Ringen mit den ganz großen Problemen, etwa um Fermats Letzten Satz oder das Keplersche Problem. Viele weitere große Rätsel sind nach wie vor ungelöst und werden die Wissenschaft der Zahlen weiter beschäftigen. Die größten sind die Millennium-Probleme, für deren Lösung jeweils ein Preisgeld von einer Million US-Dollar wartet.
Die Rolle der Mathematik in der modernen Welt ist vielfältig. Die Mathematik ist von elementarer Bedeutung für viele Arbeitsfelder. Sie ist die Grundlage aller modernen Naturwissenschaften. Ganz besonders deutlich ist dies in der Physik. Sie ist nicht denkbar ohne Mathematik, beide haben sich über Jahrhunderte gleichsam als siamesische Zwillinge entwickelt. Mathematik steckt in jedem Wetterbericht, in Öffifahrplänen, im Chipdesign und in der Telekommunikation. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit im Lotto zu gewinnen? Wie kamen die Menschen zum Mond? Wie weit ist die Sonne entfernt, oder einfach Wien von Paris?
Nach Adam Riese
Im Alltag ist für Otto Normalverbraucher nicht viel Mathematik vonnöten. Die Grundrechenarten, Prozente und Zinsen, elementare Geometrie: Wie es auch schon in dem berühmten Kleinen Rechenbüchlein von Adam Ries aus dem Jahr 1522 zu finden ist. Mit diesem lernten die deutschen Kaufleute das Rechnen und wurden somit unabhängig von den Rechenmeistern und von den horrenden Gebühren fürs Vor- und Nachrechnen der Geschäfte.
Ohne Mathematik sähe es im Alltag dennoch oft sehr trist und man selbst ohne Mathegrundkenntnisse ganz schön alt aus. Aber mathematische Forschung geht weiter, dringt in andere Dimensionen vor, bis hin zum Unendlichen. Dort kann die Wissenschaft nicht mehr rein rechnerisch erklärt werden. Im Bereich von dynamischen Systemen beispielsweise. Das sind mathematische Modelle, die reale oder zeitlich veränderbare Prozesse schematisch veranschaulichen. Das Wetter etwa ist ein dynamisches System. Und das ist nicht immer einfach zu bestimmen, dazustellen, vorherzusagen.
Mathematik mehr als nur Zahlen
Bei Wetterkatastrophen können präsise Vorhersagen Leben retten. Dass sich Windgeschwindigkeiten und Temperaturen – und auch der Pollenflug – für mehrere Tage bestimmen lassen, beruht auf immer verbesserten mathematischen Methoden in der Meteorologie.
Für mehr Sicherheit beim Autofahren sorgen Crash-Simulationen in der Automobilindustrie. Hier – wie auch bei den Wetterberechnungen – ermöglichen auf Mathematik beruhende Algorithmen und Wissenschaftliches Rechnen mit Hochleistungs-Computern – Rechnern – weitere Verbesserungen. Das gilt auch für die meiste Assistenztechnik zum Automatisierten Fahren. Auch Navigationssysteme wären ohne die dahinterstehenden mathematischen Berechnungen absolut nutzlos
Dank Mathematik kann auch das Klima für mehrere Jahrzehnte modelliert werden. Diese Modellierungen sind eine wichtige Hilfe beim Versuch, die mit dem Klimawandel auftretenden Probleme abzuschätzen, einzudämmen und Lösungsversuche zu erstellen.
Die Mathematik bestimmt unser Leben. Jeden Tag. Oftmals sogar ganz direkt – denn mit Verfahren der kombinatorischen Optimierung können beispielsweise Fahrpläne für den öffentlichen Verkehr erstellt und optimiert werden. Die gesamte Fluginfrastruktur mit allen sensiblen Teilen des Air Traffic Managements, Herzstück der Flugsicherung, Flugpläne, Nutzlastberechnungen werden mit mathematischen Formeln und Algorithmen bestimmt.
Primzahlen bilden den Kern der Verschlüsselungsverfahren, die das so selbstverständliche Internetbanking für uns sicher machen. Moderne Grafikprogramme, komplexe Computerspiele und die Kompression von Videos, Virtual Reality und die Navigation von Satelliten im All: Grundlage zum Erstellen und Steuern ist die Mathematik. (siehe Grafik oben)
Die Stabilität von Brücken, Kuppeln und Hochhäusern basiert auf Erfolgen der Statik und von mathematischen Methoden in der Werkstoff- und Bauteilsimulation. Dank Mathematik kommt man morgens pünktlich ins Büro. Und auch in der Logistik lautet das Prinzip: Je mehr Mathematik – in dem Fall Berechnunsgmodelle zur Vermeidung von Unter- oder Überkapazitäten – , desto effizienter kann gearbeitet werden.
Auch die Materialforschung macht sich die Mathematik zu Nutzen und formt gänzlich neue und industriell verwertbare Stoffe, die unter anderem auf der assymetrischen Formenpalette der Geometrie aufbauen.
Zählbar nützlich
In der modernen, digitalisierten Gesellschaft basiert demnach fast alles auf Berechnungen, sagt auch der Mathematiker Martin Grötschel. Obwohl man überall auf mathematische Probleme trifft, sind sich die wenigsten der Bedeutung dieser Disziplin bewusst. Wolfgang Däuble von DiePresse sprach mit dem Wissenschaftler über den unterschätzten Nutzen seines Faches.
Die Presse:Obwohl sie für viele der Inbegriff des trockenen Schulstoffs ist, scheint es Ihnen ein wichtiges Anliegen zu sein, die Mathematik einer breiten Öffentlichkeit näherzubringen. Sie halten viele Vorträge für Laien. Was ist Ihre Motivation?
Martin Grötschel: Der Grund ist eigentlich, dass die Mathematik eine völlig unterbewertete Wissenschaft ist, die hauptsächlich im Verborgenen arbeitet. Über Mathematik wird relativ selten berichtet, und wenn, dann häufig über völlig irrelevante Dinge, wie die Entdeckung der nächsten größten Primzahl oder dergleichen. Aber die wirklich wichtigen Entwicklungen bringen es nicht in die Öffentlichkeit.
Woran scheitert es?
Einerseits natürlich daran, dass die Spitzenforschung in der Mathematik einfach nicht darstellbar ist. Das sind hoch spezialisierte Gebiete mit eigener Sprache. Andererseits werden aber auch viele Anwendungen in der Regel einfach dem Computer oder der Informatik zugeschrieben. Dabei stecken dahinter meistens mathematische Berechnungen.
Hier möchte ich ansetzen und anhand von Beispielen aus meinem eigenen Arbeitsbereich erklären, wo man im täglichen Leben der Mathematik begegnet, ohne es zu merken. Und da gibt es zahllose Beispiele: Ob man den Strom anschaltet, im Internet surft oder einfach ein Joghurt aus dem Supermarktregal nimmt, es gibt heute praktisch keinen Teil des modernen Lebens, an dem Mathematik nicht einen gewissen Anteil hat.
Die Mathematik im Joghurt müssten Sie mir schon genauer erläutern . . .
Nun, um es in den großen Supermärkten zu verkaufen, muss man ja ganze Flotten von Transportfahrzeugen durch die Gegend schicken, deren Routen planen, die Verpackungsgrößen und den Materialeinsatz optimieren, fahrerlose Bediengeräte für Hochregallager steuern – das wird heutzutage alles mit mathematischen Methoden erledigt. Ohne sie würden all diese Prozesse nicht die gleiche Effizienz aufweisen, und die Güter wären längst nicht so preiswert.
Es geht also hauptsächlich um die Logistik im Einzelhandel?
Nein, die Mathematik hat fast überall ihre Finger im Spiel. Beispielsweise in der industriellen Landwirtschaft, wo vom Weltraum aus über Satelliten die großen Maschinen gesteuert werden, der richtige Zeitpunkt zum Düngen oder der Reifegrad der Ernte bestimmt wird. Oder in der Fischzucht, wenn mit linearer Optimierung die ideale Zusammensetzung des Futters berechnet wird.
Oder in Navigationssystemen – ohne die richtige Mathematik dahinter würde es viel zu lang dauern, eine optimale Route anzuzeigen. Ganz zu schweigen von großen Konzernen, die sogenanntes Enterprise Requirement Planning betreiben, also die gesamten Lieferketten für die Produktion vorausplanen. Das sind dann Optimierungsprobleme mit Hunderten Millionen Variablen, die wir heute zum Teil auch noch nicht lösen können. Aber wir arbeiten daran, diese Dinge in die Nähe der Lösbarkeit zu bringen.
Werden sich solche mathematischen Probleme nicht bald mit selbstlernenden Algorithmen, künstlicher Intelligenz und Big Data lösen lassen?
Bestimmt nicht. Momentan wird mit der künstlichen Intelligenz ein unglaublicher Hype betrieben, weil manche damit wirtschaftliche Erfolge verbuchen. Die tun dann so, als könne man alles in der Welt damit lösen. Das ist natürlich bei Weitem nicht der Fall.
Denn künstliche Intelligenz produziert lediglich Korrelationen, die Mathematik als Wissenschaft sucht aber nach Kausalitäten. Außerdem hängen die Fähigkeiten der künstlichen Intelligenz sehr stark von der Qualität der Daten ab, nicht allein von deren Menge.
Big Data mag Amazon dabei helfen, Vorschläge für bestimmte Produkte zu machen, die einen interessieren könnten. Aber wenn es um Fragestellungen geht, die für unser Leben wirklich relevant sind, etwa in der Medizin, braucht es eine Qualitätskontrolle der Daten – da sind wir dann wieder bei einem sehr schwierig zu lösenden Problem.
Der Mensch bleibt also auch hier unersetzlich?
Genau so ist es. Natürlich haben Lernalgorithmen einige beeindruckende Leistungen vollbracht, sie sind besser als jeder Mensch in Spielen wie Go oder Schach. Aber letztlich zeigt das doch nur, dass diese Spiele nicht so intellektuell sind, wie wir dachten.
Wo sehen Sie in der näheren Zukunft das größte Potenzial für die Mathematik?
Im technischen oder betriebswirtschaftlichen Bereich leistet die Mathematik jetzt schon sehr viel, in anderen Bereichen wie der Biologie kann sie aber sicherlich noch viel beitragen, etwa zur Modellierung biologischer Prozesse. In der Chemie wird sie zwar häufig eingesetzt, aber auch hier ist noch viel Luft nach oben.
Praktisch Neuland ist für Mathematiker aber der Bereich der Geisteswissenschaften, hier werden zurzeit die sogenannten Digital Humanities entwickelt, auch ich beschäftige mich damit. Das ist sehr spannend, denn man weiß noch gar nicht, ob die Mathematik hier überhaupt einmal nützlich sein wird.
Die TU Wien will den oft im Verborgenen gebliebenen Beitrag der Mathematik zu Technik, Naturwissenschaften, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur für eine breite Öffentlichkeit sichtbar machen. Sie startete dazu das TU Forum Mathematik (TU ForMath) mit Abendvorträgen und einem Schulprogramm.
Regelmäßig Vorträge und Diskussionsveranstaltungen zu interessanten, gesellschaftsrelevanten oder auch kuriosen Themen rund um die Mathematik sollen ein breites Zielpublikum ansprechen. Zudem will die TU interaktive Workshops für Schulklassen unterschiedlicher Altersgruppen anbieten und schafft dafür einen eigenen Vortragsraum im Freihaus (4., Wiedner Hauptstraße 8-10).