Kategorie Innovation & Technologie - 23. September 2020
EuGH-Urteil zu Atomkraft in Europa: Scharfe Kritik aus Österreich
Nach der endgültigen Zurückweisung der österreichischen Klage gegen britische Staatshilfen für das Atomkraftwerk Hinkley Point C durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) übt das Klimaschutzministerium (BMK) scharfe Kritik an der Entscheidung.
„Die Entscheidung ist ernüchternd, die sonst so strengen Beihilferichtlinien in Europa wurden ausgerechnet für die Hochrisiko-Technologie Atomkraft über Bord geschmissen. Das ist eine Fehlentwicklung in Europa, gegen die wir entschieden auftreten werden“, kommentierte Klimaschutzministerin Leonore Gewessler das umstrittene Urteil. „Wenn nun der veraltete EURATOM-Vertrag als Rechtfertigung für Beihilfen herangezogen wird, ist klar: Es braucht eine Reform! Diese haben wir auch im Regierungsübereinkommen festgehalten, aktuell warten wir auf ein entsprechendes Rechtsgutachten.“ Noch während der Deutschen EU-Ratspräsidentschaft soll sich um eine Aufnahme des Themas bemüht werden.
Auch Magnus Brunner, Staatssekretär im BMK, bezeichnete die Entscheidung des EuGH am Dienstag als „völlig falsches Signal und auch rechtlich unverständlich“. „Atomkraft ist weder nachhaltig noch sicher. Es ist bedauerlich, dass veraltete und teure Technologien subventioniert werden, und man somit den Markt verzerrt“, so Brunner. „Diese millionenschweren Förderungen versperren nachhaltigen Alternativen, wie der Wasserkraft oder der Photovoltaik den Weg.“ Österreich gehe einen anderen Weg. Die Bundesregierung wolle bis 2030 bilanziell 100 Prozent des Strombedarfs in Österreich aus erneuerbaren Energiequellen decken. Österreich sei hier „Vorreiter in Europa und Vorbild für die Mitgliedsstaaten“, so Brunner.
Der EuGH hat zugestimmt, das Wettbewerbsrecht für britische Subventionen von Atomkraft auszusetzen. Somit kann Großbritannien dem Betreiber 35 Jahre lang einen fixen Strompreis garantieren, darüber hinaus sind eine staatliche Kreditgarantie sowie Kompensationen für die Schließung der Anlage aus politischen Gründen vorgesehen.
Ruf nach EURATOM-Reform
Die Ausführungen des Generalanwalts weisen darauf hin, dass der Europäische Gerichtshof in den Zielbestimmungen des EURATOM-Vertrages eine Rechtfertigung staatlicher Beihilfen für Kernkraftwerke sieht.
Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) reicht zurück bis in die Anfänge der EU und war von Anfang an Bestandteil des europäischen Zusammenschlusses. Gemeinsam mit dem Vertrag zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) unterzeichneten Deutschland, Frankreich, Italien und die drei Benelux-Staaten am 25. März 1957 in Rom den EURATOM-Vertrag, der die Entwicklung der Atomindustrie und die Förderung der friedlichen kerntechnischen Forschung regeln sollte. 1957 freilich vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, als die Welt im Dauerzustand einer atomaren Bedrohung stand, ein besonders dringliches Anliegen.
Als dieser Vertrag verabschiedet wurde, steckte die Atomforschung in den Kinderschuhen. Die Kernspaltung wurde 1938 entdeckt und in den 1940er und 1950er Jahren weltweit zunehmend verbreitet. Sie diente zunächst vorwiegend militärischen Zwecken: Die USA warfen 1945 zwei Atombomben auf Japan ab. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Atomenergie vermehrt auch zivil genutzt – zur Energiegewinnung.
Unter dem Eindruck der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki und des atomaren Rüstungswettbewerbs zwischen der Sowjetunion und den USA lag es im Interesse der Euratom-Gründerstaaten, die Technologien und Materialen zur Kernspaltung als potenziell kriegswichtige Güter unter gemeinsame Kontrolle zu stellen. Gleichzeitig wollten sie finanzielle Mittel für die weitere Erforschung und den Bau von Kraftwerken gemeinsam aufbringen, da die einzelnen Staaten dazu allein kaum in der Lage gewesen wären. Von der Atomenergie erwarteten sich die sechs Euratom-Gründerländer Abhilfe angesichts der Energieknappheit in der Nachkriegszeit und eine Verringerung der Abhängigkeit von Erdöl-Importen.
Ziel der Atomgemeinschaft ist es laut Vertrag, „durch die Schaffung der für die schnelle Bildung und Entwicklung von Kernindustrien erforderlichen Voraussetzungen zur Hebung der Lebenshaltung in den Mitgliedstaaten beizutragen“. Aufgabe ist es etwa, für eine regelmäßige und gerechte Versorgung der Gemeinschaft mit Erzen und Kernbrennstoffen zu sorgen. Auch sollten Sicherheitsnormen für den Schutz der Gesundheit vor Strahlung erarbeitet werden. Und es sei zu gewährleisten, dass ziviles Kernmaterial nicht für andere (insbesondere militärische) Zwecke abgezweigt wird. Die Hauptaufgabe, die Entwicklung der Kernforschung, wird mit Hilfe des Forschungsrahmenprogramms realisiert. Der Großteil des Geldes fließt jetzt in den Bau und Betrieb des Kernfusionsreaktors ITER.
Da ein Austritt aus EURATOM nach einhelliger Auffassung der Rechtsdienste der Republik Österreich ohne einen Austritt aus der EU gar nicht möglich ist, kämpft Österreich für eine Reform des veralteten Vertrags, sodass die Mittel nur noch für die Entsorgung bzw. langfristige Lagerung radioaktiver Abfälle sowie Strahlenschutz, Sicherheit und Rückbau von Atomkraftwerken sowie Forschung im Bereich der medizinischen Nutzung verwendet werden. Außerdem tritt die Bundesregierung für die Schaffung eines EU-weiten einheitlichen nuklearen Haftungsregimes ohne Haftungsobergrenzen ein. Das Volksbegehren „Raus aus Euratom“ erhielt rund 100.000 Unterschriften.
Dies ist auch im Regierungsübereinkommen festgehalten: Demnach seien „Mittel nur noch zu verwenden für die Frage der Entsorgung bzw. langfristigen Lagerung radioaktiver Abfälle sowie des Strahlenschutzes, der Sicherheit und des Rückbaus von Atomkraftwerken sowie der Forschung im Bereich der medizinischen Nutzung“. Zudem wird ein von der „Nuklearkoordination“ in Auftrag gegebenes Gutachten zu einer Reform des EURATOM-Vertrages gerade finalisiert.
Obwohl Atomenergie jahrzehntelang hoch subventioniert wurde, ist die Technologie wirtschaftlich nicht überlebensfähig. Nun soll sie durch Subventionen künstlich wiederbelebt werden. Aus österreichischer Sicht widerspricht die geplante Beihilfe für Hinkley Point C dem Wettbewerbsrecht der EU. Darüber hinaus handelt es sich um einen Präzedenzfall für weitere Neubauten von Kernkraftwerken in der EU, wie etwa im tschechischen Dukovany. Österreich hatte daher den beihilfenrechtlichen Genehmigungsbeschluss der Europäischen Kommission mit einer Nichtigkeitsklage angefochten.