Kategorie Innovation & Technologie - 22. Mai 2015
Motor real, aber Chassis in Theorie
Das Schlagwort vom „Virtuellen Prototyp“ kursiert schon länger. Während früher beim Autobau Komponenten buchstäblich auf dem Reißbrett entworfen und dann zu einem Prototyp zusammengesetzt wurden, der dann erstmals einen Eindruck von dem neuen Modell vermittelte, wird heutzutage jedes Auto schon auf dem Computer bis ins Detail geplant. Reale Prototypen sind kaum noch nötig, sie wurden durch virtuelle ersetzt. Bis zu 60 Prozent der Entwicklung geschehen rein virtuell – so wird die Geschichte gern erzählt.
Die Wirklichkeit sieht ein wenig anders aus: Der Entwicklungsprozess ist nicht linear. Manche Komponenten sind früher fertig als andere, manche sind mit dem Computer gut planbar, andere müssen erst auf dem Prüfstand getestet werden, wieder andere können aus früheren Modellen übernommen oder müssen nur leicht abgeändert werden. So kommt es, dass im Lauf der Entwicklung eines neuen Fahrzeugs keineswegs nur mit virtuellen Prototypen gearbeitet wird, sondern durchaus auch schon reale Bauteile vorhanden sind.
Neues mit Altem verbinden
So kann es zum Beispiel passieren, dass der Motor des Fahrzeugs längst bekannt ist, während das Chassis reine Theorie ist. Bei den Bremsen wird überlegt, auf ein bewährtes System aus dem Vorgängermodell zurückzugreifen, oder ein neues zu bauen, von dem es schon detaillierte Konstruktionspläne gibt. Aber verträgt sich die neue Anlage mit dem Antriebsstrang? Wie viel wird das neue Fahrzeug verbrauchen? Wird man damit die Abgasnormen einhalten können? Ist später vielleicht sogar eine Hybridversion geplant?
Was bisher fehlte, war ein Softwaretool, das flexibel genug ist, nicht nur reale und virtuelle Komponenten zu einem gemeinsamen Bild eines Fahrzeugs zu verbinden, sondern auch verschiedene Simulationstools unterschiedlicher Hersteller unter einen Hut zu bringen. Deshalb hat man am Kompetenzzentrum Virtuelles Fahrzeug (VIF) an der TU Graz eine Simulationsplattform entwickelt, die virtuelle Komponenten und reale Bauteile zu einem Gesamtbild zusammenfügt. Mit diesem „halb virtuellen“ Fahrzeug können nun zum Beispiel jene Testfahrten simuliert werden, anhand derer später die Verbrauchs- und Abgaswerte ermittelt werden.
Dazu ist das VIF, Österreichs größtes Kompetenzzentrum im Rahmen des Comet-Programms von Technologie- und Wissenschaftsministerium, eine Kooperation mit dem steirischen Traditionsunternehmen AVL List eingegangen. Das neue Simulationstool wird Icos heißen. Es soll in eine Entwicklungsplattform der AVL namens IODP eingefügt und international vertrieben werden.
„Die Anforderungen in der Fahrzeugentwicklung haben sich in den letzten 20, 30 Jahren massiv verändert“, sagt Wolfgang Puntigam von der AVL. „Die Zahl an Varianten bei Fahrzeugen hat stark zugenommen, es gibt von fast jedem Modell eine Basisversion, einen Kombi, ein Coupé, ein Cabrio und ein SUV. Zugleich wird immer mehr mit Baukastensystemen gearbeitet: Audi A3, Skoda Octavia, Seat Ibiza und VW Golf basieren alle auf der Golf-Plattform, mit gleichen Motoren und zum Teil identischen Blechteilen.“
Dramatisch verändert habe sich der Entwicklungsprozess auch durch äußere Anforderungen wie die Abgasgesetzgebung. „Die Entwicklung eines Fahrzeugs dauert je nach Hersteller etwa fünf Jahre, dann wird ein Modell fünf, sieben Jahre lang verkauft und ist dann noch zehn Jahre auf der Straße. Man muss also extrem weit in die Zukunft planen.“
Abgaswerte testen
Die Schwierigkeit dabei: Die Abgaswerte werden in einem realen Test ermittelt. Dabei durchfährt das Fahrzeug auf einem Prüfstand ein genormtes Programm, etwa nach dem Neuen Europäischer Fahrzyklus, kurz NEFZ. Doch wie soll ein Fahrzeug, das es noch gar nicht gibt, einen Prüfstand-Test absolvieren? Einzelne Modelle, um diese Werte virtuell zu ermitteln, gibt es jetzt schon. Allerdings wird dabei nie das ganze Fahrzeug betrachtet, sondern nur einzelne Komponenten, und es besteht die Gefahr, Fehler zu machen, wenn Wechselwirkungen zwischen den Komponenten nicht richtig berücksichtigt werden.
Mithilfe einer sogenannten „Co-Simulations“-Plattform wie Icos lassen sich nun einzelne Simulationstools und reale Komponenten zu einem Gesamtbild des späteren Fahrzeugs kombinieren. Die Abgaswerte sind ja nur ein Faktor, dazu kommen Verbrauchswerte, Fahrzeugleistung, Kostenfragen, Sicherheit bei Crashtests, aber auch schwer messbare Faktoren wie das spätere Fahrerlebnis.
Icos ist eine Weiterentwicklung von Puntigams Dissertation beim Virtuellen Fahrzeug. „Anfangs haben wir für jedes einzelne Simulationsprogramm Übersetzungsroutinen geschrieben, um es in unsere Ko-Simulation integrieren zu können.“ Dann habe man in der Industrie in einem Gremium einen allgemeinen Standard entwickelt. „Auf Druck der Automobilhersteller wurde dieser Standard umgesetzt und befindet sich derzeit in der Implementierung bei den Softwareherstellern“, so Puntigam. Icos kann also künftig über extra dafür vorgesehene Schnittstellen an die einzelnen Software-Werkzeuge anknüpfen.
Große Hersteller testen System
Die Automobilindustrie hat also offensichtlich großes Interesse an Ko-Simulation. „Icos hat vor allem zwei Alleinstellungsmerkmale. Wir haben zwölf Jahre Erfahrung mit unserem System. Die Synchronisierung der einzelnen Simulationstools ist bei uns optimiert.“
Und was genauso wichtig sei: „Mit der AVL IODP ist eine ideale Anbindung an die Prüfstandswelt gegeben“, sagt Puntigam. Bei großen Herstellern wie BMW oder Porsche ist das System bereits testweise im Einsatz, die globale Markteinführung ist nun für Juni geplant.