Kategorie Mobilität - 20. März 2016
Der Verkehrsexperte, der uns auf die Füße schaut
Stefan Seer darf man getrost zum Inventar des Austrian Institute of Technology (AIT) zählen. Der erst 34-jährige Mobility-Experte aus Wien ist nämlich schon relativ lange bei Österreichs größtem außeruniversitärem Forschungsinstitut und dessen Vorgängereinrichtungen tätig. Es war 2003, als er, damals noch FH-Student des Technikum Wien, am Arsenal Research begann, sechs Jahre später wurde das Institut gemeinsam mit seiner Mutterorganisation Austrian Research Centers Seibersdorf zum AIT zusammengeschlossen.
Seer wuchs schnell in die Forschergruppe Dynamic Transportation Systems hinein, die sich unter anderem zur Aufgabe stellte, Modelle und Programme für die Analyse von Fußgängerströmen zu entwickeln. Damit sollten neue Lösungen für den städtischen Verkehr möglich werden.
Der kühle Analytiker und Tüftler wurde Leiter des aus mehrfachen Gründen bekanntesten Crowd-Management-Projekts aus dieser Zeit. Im Auftrag der Wiener Linien wurde ein Regelsystem für die Fußball-Europameisterschaft 2008 in Österreich und der Schweiz entwickelt, das nach den Spielen in der U2-Station Stadion zum Einsatz kam und die Anzahl der Passagiere auf den Bahnsteigen errechnete. Waren es zu viele, um in der nächsten U-Bahn Platz zu finden, dann wurde der Abgang zur U-Bahn-Station automatisch gesperrt. So konnten mehr als 20.000 Besucher eines Fußballspiels innerhalb einer Stunde ohne großes Gedränge und Panik geschleust werden. Dafür gab es dann auch den Staatspreis Mobilität des Verkehrsministeriums.
Da sich Technologien aber schnell weiterentwickeln, auch die für Personenstromanalysen, trieb es Seer an jenen Platz, wo viele Anwendungsideen ihren Ursprung nehmen: nach Boston ans hochangesehene Massachusetts Institute of Technology (MIT). Stefan Seer, mittlerweile Leiter des Forschungsteams Dynamic Crowd Solutions am AIT, war von 2011 bis 2012 am Senseable City Lab des MIT – unter dem italienischen Stararchitekten und Ingenieur Carlo Ratti. Der Forscher arbeitete an mehreren Projekten, die sich wieder mit Analysen von Gehwegen von Fußgängern in der Stadt beschäftigen. In „Kinect Kinetics“ etwa wurden mehrere 3-D-Sensoren untereinander verknüpft.
Seer sagt heute: „Dieser erste Aufenthalt war wirklich prägend.“ Man muss sich das so vorstellen: Ein kleiner Österreicher schnupperte an der großen Wissenschaftswelt und blieb ihr erhalten, fasziniert von der unösterreichischen Eigenschaft der US-Amerikaner, positiv an Fragestellungen heranzugehen. Stefan Seer wickelt aufseiten des AIT nämlich auch Kooperationen mit dem MIT Media Lab ab, der weltbekannten Denkwerkstätte für Informatiker und Designer. So wurde zum Beispiel das Projekt „Persuasive Urban Mobility“ durchgeführt, in dem man nach Anreizen für Autofahrer suchte, auf das Fahrrad umzusteigen. Dabei ging es gar nicht so sehr um Extrazuckerln für die Bekundung, in Zukunft auf zwei Rädern unterwegs sein zu wollen. Das Problem waren vielmehr zahlreiche unsichere Situationen im Straßenverkehr. Eine Hürde für den Umstieg.
Seer hat zuletzt seine Dissertation an der TU Wien abgeschlossen. Das Thema war ein einheitlicher Qualitätsstandard für – wie könnte es anders sein – Fußgängersimulationen. (Peter Illetschko, 20.3.2016)