Kategorie Energie - 4. Juli 2022

Expert:innen warnen vor EU-Nachhaltigkeitssiegel für Atomkraft

Internationale Experten warnen nachdrücklich vor den Plänen der EU, Atomkraft als nachhaltige Investitionen einzustufen. In einem Brief an das EU-Parlament argumentieren Wissenschaftler:innen und Expert:innen aus dem Bereich Kernenergie – unter federführender Beteiligung der Universität für Bodenkultur (BOKU) Wien -, warum Investitionen in die Nuklearenergie ökonomisch nicht sinnvoll und darüber hinaus gefährlich seien und zudem nicht geeignet, das Klimaproblem zu lösen.

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Der Ende vergangener Woche veröffentlichte Appell an EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola und die Fraktionsvorsitzenden im EU-Parlament erfolgt kurz vor der Abstimmung des EU-Parlaments kommende Woche über die sogenannte Taxonomie-Verordnung zur Umsetzung der EU-Klimapläne. Um bis 2050 klimaneutral zu werden, hat die EU-Kommission vorgeschlagen, dass auch Investitionen in Atomkraft und Gas als klimafreundlich gelten sollen. Die Experten fordern das EU-Parlament auf, diesen Vorschlag abzulehnen.

Kernenergie sei „keineswegs eine nachhaltige Form der Energieerzeugung und Investitionen in diesem Bereich stünden dann für den dringend benötigten Ausbau erneuerbarer Energiequellen nicht mehr zur Verfügung“, warnen die Expert:innen. Atomenergie sei schlicht zu teuer und unwirtschaftlich, um einen relevanten Beitrag zur globalen Energieerzeugung zu leisten. Hinzu komme das Sicherheitsrisiko und die ungelösten Probleme des langlebigen radioaktiven Abfalls.

Sicherheitsrisiko bei Atommeilern steigt

Das Sicherheitsrisiko habe zuletzt der Krieg in der Ukraine durch die Kämpfe an AKW-Standorten eindrücklich vor Augen geführt, so die Experten. Auch die Auswirkungen des Klimawandels mit dem Anstieg des Meeresspiegels, vermehrte und stärkere Stürme sowie Überflutungen würde das Risiko von Atommeilern weiter erhöhen.

Sicherheitspolitisch gefährlich sei Atomkraft überdies, weil eine Vielzahl neuer Reaktoren und gerade auch neu vorgeschlagene Reaktortypen dazu beitragen würden, das Risiko der Weiterverbreitung von Atomwaffen zu erhöhen. Die Expert:innen weisen zudem auf das Problem der Versorgungssicherheit hin, da die meisten Atomkraftwerke weltweit von russischen Uran-Lieferungen abhängig seien.

Neue Reaktoren keine brauchbare Alternative

Auch in neuen Kernkraft-Technologien sehen die Wissenschaftler:innen keine brauchbare Alternative. Die Erwartungen in kleine, sichere und effizientere Atomkraftwerke seien riesig. Bisher sei ein Einsatz derartiger Reaktoren vor dem Jahr 2050 aber unrealistisch, erklärte Nikolaus Müllner vom Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften an der BOKU in einem Online-Pressegespräch. Die Forschung beschäftige sich bereits seit Jahrzehnten mit der Entwicklung neuer Reaktoren, „aus heutiger Sicht ist nicht greifbar, wo der große Durchbruch herkommen soll, wenn er in den letzten 60 Jahren nicht gekommen ist“, so Müllner.

Die Frage sei insgesamt, welche Rolle die Atomenergie in Zukunft noch spielen solle, meint der Risikoforscher Wolfgang Liebert. Als Ergänzung zu erneuerbaren Energien sei Nuklearenergie nämlich nicht sinnvoll, weil Atomkraftwerke anders als etwa Gaskraftwerke nicht rasch hochgefahren werden können, wenn etwa die Sonne nicht scheint und der Wind nicht bläst. Atomkraftwerke müssten dauernd laufen. „Wenn wir es ernst mit der Energiewende meinen, wird es schwierig“, so der Leiter des Instituts für Sicherheits- und Risikowissenschaften.

Erst Mitte Juni sprachen sich die Mitglieder des Umwelt- und Wirtschaftsausschusses des EU-Parlaments mehrheitlich gegen die Aufnahme von Gas- und Atomkraft in die sogenannte Taxonomie aus. Sie votierten damit gegen den Vorschlag der EU-Kommission, dass Investitionen in Gas und Atomkraft künftig als nachhaltig gelten sollen. Die endgültige Entscheidung im Plenum soll noch diese Woche anstehen. Österreich hatte bereits zuvor eine Klage beim EuGH gegen die Pläne angekündigt.

„Das Ergebnis der Abstimmung in den beiden Ausschüssen ist sehr erfreulich“, kommentierte Gewessler das Abstimmungsergebnis. „Nuklearenergie und Gas haben in der Taxonomie nichts verloren. Jetzt braucht es dieselbe Entscheidung im Plenum des Europaparlaments, dann kann der delegierte Rechtsakt nicht in Kraft treten.“

Das geplante Inkrafttreten der neuen Regeln lässt sich noch verhindern, wenn 20 der 27 EU-Staaten mit mindestens 65 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung oder eine absolute Mehrheit im Europaparlament dagegen stimmen. Dass die Mitgliedsländer sich noch dagegenstellen, gilt als unwahrscheinlich. Die EU-Mandatare entscheiden endgültig im Juli. Stimmen sie dagegen, müsste die EU-Kommission ihren Vorschlag dann zurückziehen oder ändern.

apa/red

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