Kategorie Klima- & Umweltschutz - 16. Mai 2022

Gletschertagebuch: Ungewöhnlicher Mix von Witterungen setzt Österreichs Gletscher weiter unter Druck

Ein ungewöhnlich sonniger und trockener Herbst, dazu wenig Schnee und viel Wind im Winter: Diese Mischung hat den Alpengletschern heuer besonders zugesetzt, berichten die beiden Glaziologen Andrea Fischer und Hans Wiesenegger in der aktuellen Folge ihres Gletschertagebuchs.

Über das Winterhalbjahr wächst die Schneedecke am Gletscher in durchschnittlichen Jahren kontinuierlich. Dies war im Winter 2021/22 nicht überall der Fall, geringe Schneemengen in Verbindung mit Wind sorgten an einigen Gletschern für blankes Eis im Hochwinter – ein ungewohnter Anblick, der auch Folgen für den Gletschersommer haben kann.

© ORF

Eine möglichst dicke Schneeschicht am Ende des Winters ist wichtig, damit im warmen Sommerhalbjahr möglichst lange Schnee liegt und das Eis vor Schmelze schützt. Ist erst das dunkle Eis an der Oberfläche, wird die Sonnenstrahlung wesentlich weniger stark reflektiert als von der hellen Schneedecke, und der Abbau der Eisreserven geht rasch voran. In den Sommermonaten verlieren ungeschützte Gletscher zehn bis 20 Zentimeter Eis pro Tag.

Trauriger Anblick bis Mai

Der Verlauf des Winters 2021/22 war ungewöhnlich, da nach einem eher gewöhnlichen Start in das Winterhalbjahr mit schneebedeckten Gletschern am 1. Oktober sehr sonnige und trockene Wochen folgten, der erste nennenswerte Niederschlag kam erst Ende November. Zu dieser Zeit ist es auf den Gletschern schon kalt, der trockene Schnee hat wenig Bindung zum Untergrund und kann vom Wind gut verfrachtet werden.

Insbesondere im Westen Österreichs, aber auch in den Hohen Tauern wurde ein Großteil der Schneefälle des Hochwinters von starkem Wind begleitet, und so boten die Gletscher bis zum Mai einen oft traurigen Anblick: In exponierten Bereichen war das Eis im Hochwinter vom Wind blankgefegt. Dies war in Regionen mit überdurchschnittlichen (etwa Salzburg) und unterdurchschnittlichen (Osttirol) Schneefällen gleichermaßen zu beobachten. Erst die wärmeren Schneefälle im April konnten sich an das Eis binden und verbesserten die Optik. Die Schneeverteilung allerdings blieb an den meisten Gletschern ungewöhnlich.

Dünne Schneedecken

Durch die ungewöhnliche Verteilung des Schnees kann sich auch die Schmelze anders als in Durchschnittsjahren entwickeln. Aus der Schweiz wurde etwa die Bildung vieler oberflächlicher Schmelzwasserseen berichtet. An vielen Gletschern gibt es Bereiche – auch insbesondere in den hochgelegenen Kammlagen -, die nur mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt sind. Es kann also passieren, dass die oberen Teilbereiche heuer früher ausapern als die Zungen, an denen sich der Triebschnee zu durchschnittlichen Schneemengen aufgetürmt hat.

Schon im Mai war heuer an einigen Zungen Eisschmelze zu beobachten, da dort bereits Eisflächen frei lagen, die in anderen Jahren erst Wochen später ausapern. Allerdings könnte ein kühles und schneereiches Frühjahr die Gletscher in den Sommer hineinretten: Jede Schneeflocke, die nun fällt, verzögert die Ausaperung, jede Wolke reduziert die auf der Gletscheroberfläche eintreffende Sonnenstrahlung. Die Ausgangslage könnte also günstiger sein, entschieden ist das Haushaltsjahr wie jedes Match erst beim Schlusspfiff, und den gibt es am 30. September. Jetzt sind wir erst am Ende der ersten Halbzeit, noch ist alles möglich.

Stubacher Sonnblickkees

Das Stubacher Sonnblickkees im Nationalpark Hohe Tauern erwischte im Winter zwar etwas mehr Niederschlag als die Gletscher im Westen Österreichs, die Aufzeichnungen an der automatischen Schnee-Messstelle am Kalser Törl zeigen jedoch den doch ungewöhnlichen Verlauf des Winters 2021/2022.

Grafik zu den Schneehöhen im Bereich Kalsertörl

Schneehöhenzuwachs 2022 (unten) im Vergleich mit schneereichem Winter 2019 am Kalser Törl (unterschiedliche Skalen), © Hans Wiesenegger

 

Zum 9.5.2022 verzeichnete die automatische Schneemessstation Weißsee beim Stubacher Sonnblickkees nur etwas unter zwei Meter Schnee, im Jahr 2019 wurden dort etwa 3,5 Meter Schnee gemessen. Die größte Schneehöhe wurde in diesem Winter schon Anfang Februar verzeichnet, danach ging die Schneehöhe zurück, das ist wesentlich früher als in Durchschnittsjahren.

Die Schnee-Messlatte am Totalisator in 2.500 m Seehöhe zeigt ein ähnliches Bild, wobei hier die Schneeverfrachtung durch Wind ausgleichend gewirkt hat.

Schneehöhenvergleich am Totalisator Sonnblickkees

Schneehöhenvergleich am Totalisator Sonnblickkees © Hans Wiesenegger

 

Auch an den für die Massenbilanz maßgeblichen Schneeschächten in 2.725 bzw. 2.900 m Seehöhe wurden nur ca. drei Meter Schnee, das ist etwa ein Meter weniger als im Durchschnitt der letzten fünf Jahre, gemessen.

Spannend für den weiteren Verlauf der Massenbilanz wird der Einfluss des Saharasandes, der durch Niederschläge Mitte März fast flächendeckend am Stubacher Sonnblickkees abgelagert wurde.

Stubacher Sonnblickkees am 24.3.2022 mit Saharasand

Stubacher Sonnblickkees mit Saharasand © Hans Wiesenegger

 

Hallstätter Gletscher

Am Dachstein zeigte sich dem Messteam um Kay Helfricht (IGF/ÖAW) und Klaus Reingruber (Bluesky) ein von den übrigen Gletschern abweichendes Bild. Die Schneehöhen der Schächte am Hallstätter Gletscher waren leicht überdurchschnittlich. Bis zu 1,30 Meter Schnee sind seit dem Saharastaubereignis im März noch hinzugekommen. Darunter findet sich kompakter, windgepresster Schnee vor allem aus dem Frühwinter. In Summe ergaben sich Schachttiefen von bis zu 6,80 Meter.

Hallstätter Gletscher am 28.4.2022

Die Schächte am Hallstätter Gletscher waren ähnlich tief wie in den letzten Jahren, © Klaus Reingruber

 

Goldbergkees und Kleinfleißkees

Anton Neureiter von der ZAMG fand am Goldbergkees eine mittlere Schneehöhe von ca. 3,3 Meter auf. Das sind 18 Prozent weniger als im 20-jährigen Schnitt. Seit Beginn der Messreihe 1987 (1986/87) sind nur vier Winter mit einer geringen Schneelage dokumentiert. Das Kleinfleißkees hat heuer 24 Prozent weniger Schnee (das sind 2,7 Meter) als im 20-jährigen Schnitt erhalten. Das ergibt Platz drei der geringst gemessenen mittleren Schneedecke. Diese Messreihe wurde 1998/99 gestartet.

Mullwitzkees

Die Winterbilanz am Mullwitzkees im Nationalpark Hohe Tauern liegt ca. 30 Prozent unter dem Mittelwert der bisher 16-jährigen Messreihe. Der Winter 2021/22 gehört somit am Mullwitzkees zu den drei schneeärmsten Wintern seit Beginn der Messungen. Im Vergleich zum Vorjahr liegen aktuell im Mittel ca. ein- bis eineinhalb Meter weniger Schnee am Gletscher.

Jamtalferner

Am Jamtalferner in der Silvretta liegt etwa 20 Prozent weniger als im Mittel der über 30-jährigen Messreihe. Allerdings lag in etwa der Hälfte der Messjahre zum Stichtag weniger Schnee als im heurigen Winter 2021/2022, 1995/1996 lag gar die Hälfte der heurigen Schneemenge. Die schneearmen Winter führten in der Vergangenheit nicht immer zu starker Schmelze im Sommer, im Zuge des Klimawandels nehmen allerdings die Schneefälle im Sommerhalbjahr auch an den Gletschern deutlich ab, die in der Vergangenheit geringe Winterschneemengen ausgleichen konnten.

Vernagtferner

Christoph Mayer von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hat mit seinem Team bei den Messungen am Vernagtferner im Tiroler Ötztal nur etwa 60 Prozent des Schnees vorgefunden, der im langjährigen Mittel fällt. Am Hochvernagt-Plateau lag sehr wenig Schnee, in der langen Trockenzeit könnte auch hier der Schnee abgeblasen worden sein.

Hintereisferner

Die Wintermassenbilanz am Hintereisferner in den Ötztaler Alpen liegt mit 43 Prozent unter dem Mittelwert der Dekade 2011-2020. In einem normalen Winterhalbjahr baut sich im Mittel eine etwa drei Meter mächtige Schneedecke am Hintereisferner auf. Heuer hat das Team um Rainer Prinz an der Universität Innsbruck an keinem Punkt des Gletschers mehr als drei Meter Schnee gemessen.

Extremes Schneedefizit in der Schweiz

Andreas Bauder von der VAW der ETH Zürich hat die Messergebnisse von rund 15 Gletschern vorliegen. Die Situation in den Schweizer Alpen sieht erschreckend aus: Am Silvrettagletscher liegt 36 Prozent weniger Schnee als im Mittel. Besonders extrem ist das Schneedefizit es auf der Alpensüdseite, wo Bauder und KollegInnen ein Minus von bis zu 64 Prozent (Findelengletscher) und bis zu 61 Prozent (Basodinogletscher) registriert haben. Etwas weniger defizitär, dennoch deutlich unter dem Durchschnitt sind der Rhonegletscher (minus 18 Prozent) oder der Pizolgletscher (minus 19 Prozent) davongekommen.

Matthias Huss von der Universität Fribourg hat sich bereits in Zeug gelegt und eine Übersicht der jährlichen Aufnahmen ab 2000 zusammengestellt. Die Situation auf den Schweizer Gletschern kann über die Tweets der VAW der ETH Zürich und des Schweizer Messnetzes GLAMOS verfolgt werden.

Südtirol erwartet ähnliche Ergebnisse

Die Messungen an den Gletschern Südtirols werden erst ab Mitte Mai vorliegen. Roberto Dinale vom Amt für Hydrologie und Stauanlagen der Provinz Bozen rechnet allerdings auch hier mit deutlich unterdurchschnittlicher Schneelage.