6. August 2018

Vertical Farming: Gemüseanbau in Wolkenkratzern

Interview von MAIK NOVOTNY

Der Biologe Dickson Despommier propagiert seit Anfang der 2000er die Idee, Pflanzen im großen Stil in Innenräumen anzubauen Wie kann die Versorgung mit Nahrungsmitteln in den Städten trotz rasanter Urbanisierung sichergestellt werden? Der US-Mikrobiologe und Ökologe Dickson Despommier hat dafür eine Antwort parat: Pflanzenanbau in den Städten, nicht nur auf Dächern, sondern auch in Innenräumen. Seine Vision des sogenannten Vertical Farming hat ihm weltweit viel Aufmerksamkeit eingebracht. Glaubt man Despommier, steht der Durchbruch unmittelbar bevor.

STANDARD: Herr Despommier, Sie gelten weltweit als der führende Vertreter des Vertical Farming. Dabei kamen Sie eher nebenbei auf die Idee, Pflanzen in Gebäuden anzubauen. Ein glücklicher Zufall oder eine Idee, deren Zeit gekommen war?

Despommier: Beides! Es begann an der Columbia University in einem Kurs mit nur sieben Studenten. Ich fragte sie, was sie für die dringendsten Probleme der Menschheit in den nächsten 100 Jahren hielten. Es kamen viele Antworten: Überbevölkerung, Nahrungsmangel, Megacitys. Wir stellten fest, dass alle eines gemeinsam hatten: den Klimawandel. Sehr apokalyptisch! Also versuchten wir, nach Lösungen zu suchen. Die Studenten nahmen sich den Nahrungsmittelanbau auf den Dächern der Stadt vor. Mit dem Ergebnis, dass die Dächer von New York nicht ausreichten, um die Stadt zu ernähren. Im nächsten Jahr gingen wir einen Schritt weiter und hatten die Idee, in den Gebäuden Pflanzen anzubauen. Warum hatten wir da nicht gleich daran gedacht? Das war vor 15 Jahren, und seitdem arbeite ich daran.

 

STANDARD: Vertical oder Indoor-Farming wurde in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder propagiert. Warum hat es bisher nicht funktioniert?

Despommier: Was den Unterschied macht, sind Technologie und Profitabilität. Heute ist die Technologie so weit, dass man eine alte Lagerhalle anmieten, sofort loslegen und Gewinn machen kann.

STANDARD: Was sind die Vorteile des Vertical Farming?

Despommier: Man hat keine Probleme mit Schädlingen und Krankheiten. Die Lebensmittel sind frisch, man muss sie nicht transportieren und lagern. Das ist eine enorme Energieersparnis. Außerdem steckt die konventionelle Landwirtschaft in der Krise. Heute wird Indoor-Farming genau dort betrieben, wo es ihr am schlechtesten geht. Zum Beispiel in China – dort hat sich durch den Klimawandel der Rhythmus des Monsunregens verschoben. Er ist kürzer und intensiver, die Böden erodieren. Oder in Japan, wo nach Fukushima Ackerflächen verlorengingen und niemand Lebensmittel aus Japan essen wollte. Heute sind die Japaner Weltmarktführer beim Vertical Farming. tedx talks Dickson Despommier erklärt in einem TEDx-Talk sein Konzept von Vertical Farming.

STANDARD: Wie groß muss ein Indoor-Anbaugebiet sein? Kann jeder seinen Salat im Schlafzimmer anbauen, oder gibt es eine Mindestgröße?

Despommier: Es gibt viele Systeme für den Nahrungsmittelanbau zu Hause. Das Unternehmen Square Roots in Brooklyn baut dazu Schiffscontainer für den Eigenbedarf um. Am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston werden kleine Einheiten entwickelt, mit denen man in der eigenen Wohnung ernten kann. Der nächste Schritt sind Supermärkte. Man geht in den Supermarkt, erntet dort von lebendigen Pflanzen das ab, was man braucht. Das hat den Vorteil, dass die Leute sehen, wo ihr Essen herkommt. Die Firma Infarm in Berlin plant ein 20-stöckiges Gebäude, in dem alles vom Wurzelgemüse bis zum Gewürz angebaut wird.

STANDARD: Lassen sich alle beliebigen Pflanzen im Inneren anbauen?

Despommier: Ein paar Probleme gibt es noch zu lösen. Aber dann gibt es im Grunde nichts, was nicht geht. Heute wird vor allem Blattgemüse angebaut, weil dabei die Gewinnspanne am höchsten ist.

STANDARD: Vertical Farming inspiriert auch Planer. Architekten entwerfen schon futuristische Farmscrapers. Wie werden unsere Städte in Zukunft aussehen, wenn sich Vertical Farming durchsetzt?

Despommier: Genau diese Aufgabe stelle ich gerade meinen Studenten an der Fordham University. Das Ziel ist, komplett autark zu sein. Sie bekommen dazu folgende Bedingungen: Das Gebäude erzeugt seinen eigenen Strom mit Solarpaneelen und sammelt sein eigenes Wasser, mit dem die Kühlung und Heizung erfolgt. Eines meiner Lieblingsgebäude ist das Pasona O2 mitten in Tokio. Eigentlich ein normales Bürogebäude, mit einer Farm im Keller, in der Essen für die Mitarbeiter angebaut wird. Jedes Gebäude sollte das können!

 

STANDARD: Die Biolandwirte werfen Ihnen vor, dass der hydroponische Anbau nicht genug Nährstoffe liefern kann, weil Pflanzen richtigen Boden brauchen. Was entgegnen Sie diesen Vorwürfen?

Despommier: Pflanzen leben nicht vom Boden, sondern vom CO2 in der Atmosphäre. Dazu gibt es ausreichend Forschungsergebnisse. Aber von Wissenschaft wollen diese Leute nichts hören. Pflanzen nehmen alles aus dem Boden auf, was in Wasser löslich ist. Das ist gut und schlecht zugleich. Kein Landwirt wird Ihnen eine Liste mit den Inhaltsstoffen seines Bodens zeigen. Aus gutem Grund! Wenn ich Indoor-Farming betreibe, kann ich ein genaues Menü zusammenstellen und die Liste mit den Zutaten für meine Tomaten ins Schaufenster hängen. Wenn die Leute einmal diese Kontrollmöglichkeit über ihre Lebensmittel haben, werden sie nichts anderes mehr akzeptieren.

STANDARD: Die Landwirte werden trotzdem nicht sehr erfreut sein über die Konkurrenz.

Despommier: Nicht das Indoor-Farming ist der Feind der Landwirtschaft, sondern der Klimawandel. Wir brauchen eine neue Aufgabe für die Landwirte. Warum sollten sie nicht Bäume anpflanzen? Wenn sie von der Regierung für die resultierende Reduktion von Kohlenstoffdioxid bezahlt werden, können sie es sich auf der Terrasse gemütlich machen und ihren Bäumen beim Wachsen zuschauen. Dann sind alle glücklich – auf dem Land und in der Stadt.

STANDARD: Wo steht die Entwicklung des Vertical Farming heute? Gibt es noch Hindernisse, oder steht der Durchbruch bevor?

Despommier: Bei der Zusammensetzung der Nährstoffe sind wir schon sehr weit. Den größten Verbesserungsbedarf gibt es bei der Effizienz der LED-Leuchten. Aber der Durchbruch steht praktisch vor der Tür.

STANDARD: Inwiefern?

Despommier: Die Firma Plenty in San Francisco hat sich vorgenommen, Weltmarktführer zu werden, und kauft jetzt schon in großem Stil Lagerhallen auf, um sie zu Indoor-Farms umzubauen. Da ist sehr viel Geld im Spiel. Amazon-Chef Jeff Bezos hat die Biosupermarktkette Whole Foods gekauft, mit dem Ziel, frische Nahrungsmittel das ganze Jahr über anzubieten und so die Kosten zu senken. Wenn der reichste Mann der Welt in dieses Geschäft einsteigt, dann will das etwas heißen! Das heißt, in absehbarer Zeit wird die konventionelle Landschaft überflüssig sein. Das ist natürlich eine wagemutige Vorhersage von mir. Aber der Vorteil ist: Es wird dabei nur Gewinner geben!

Dickson Despommier (geb. 1940 in New Orleans) ist Mikrobiologe, Ökologe und emeritierter Professor of Public and Environmental Health an der Columbia University in New York. 2010 veröffentlichte er sein einflussreiches Buch „The Vertical Farm: Feeding the World in the 21st Century “ (St. Martin ’s Press). Seitdem ist er weltweit in Sachen Vertical Farming unterwegs, er ist Vorstandsmitglied des Vertical Farm Institute.