Kategorie Innovation & Technologie - 29. Juni 2017
Wenn das Fahrrad die Freiheit bringt
„Viele Migrantinnen wünschen sich seit der Kindheit, Rad fahren zu können. Es ist verblüffend, wie stark dieses Bedürfnis selbst bei 50-Jährigen ist“, erzählt Astrid Segert, Soziologin am Institut für Höhere Studien (IHS) Wien. Weil Fahrräder früher oft nur für den Sohn gekauft wurden, hätten viele als Kinder keine Gelegenheit gehabt, das Fahren zu lernen. Soziale Normen halten manche Frauen bis heute davon ab, das nachzuholen.
In einem ersten, vom Technologieministerium im Programm „Mobilität der Zukunft“ geförderten Forschungsprojekt „Migrantinnen erobern das Fahrrad“ zeigte Segert mit ihrem Team „latente Radfahrbedürfnisse“ auf: „Die Frauen wollen Rad fahren lernen, aber vielfältige Barrieren hindern sie daran.“ Diesen ging sie in ihrer Forschungsarbeit auf den Grund.
Mit dem eben abgeschlossenen Folgeprojekt „Frauen in Fahrt“ verdeutlichen die Forscherinnen nun: „Rad fahren bringt Migrantinnen nicht nur räumlich in Fahrt, sondern auch psychisch und sozial.“ Wer mit dem Rad fährt, könne sein Grätzel verlassen, allein einkaufen, ohne den Vater oder Bruder zur Freundin fahren – kurz: eigenständig handeln. Das Radfahren bringt vielen also ein völlig neues Lebensgefühl. Sie habe das Wort „Freiheit“ bisher in keinem Projekt so oft gehört wie in diesem, berichtet Segert.
Familie wichtiger als Religion
Die Wissenschaftlerin untersuchte dazu das Mobilitätsverhalten von Migrantinnen in Erwachsenenradkursen, die die Stadt Wien seit 2012 anbietet. Sie werden gern wahrgenommen, weil sich die sozialen Normen langsam veränderten, so Segert. Sie spricht von sogenannten Öffnungsgeschichten: Wenn sich etwa die Schwiegermutter, die selbst nicht Rad fahren kann, solidarisiert und die Frau gegenüber traditionell eingestellten Familienmitgliedern unterstützt. Überhaupt sei der familiäre Hintergrund meist weit entscheidender als die Herkunft, also ethnische oder religiöse Hintergründe, sagt Segert: Frauen würden so lang in veraltete Geschlechterrollen gezwängt, bis sie aus Unsicherheit nicht Rad fahren. Sie warnt davor, die Frauen auf ihren Migrationshintergrund zu reduzieren: „Die Zuwanderung ist nur ein Moment der Identität und des sozialen Seins.“
Mit ihrer Forschung beschritt Segert jedenfalls Neuland. Zwar ist bekannt, dass Migrantinnen aus Nicht-EU-Ländern seltener Fahrrad fahren, ihre Einstellungen und Wünsche wurden in der Verkehrsforschung bisher aber kaum beleuchtet. Segert wählte einen partizipativen Ansatz. Soll heißen: Sie bezog Vertreterinnen von Migrantinnengruppen von Beginn an in das Konsortium ihres Forschungsprojekts mit ein. „Anders hätten wir einen Großteil der Frauen nicht erreicht, außerdem kennen sie deren Bedürfnisse genau.“
Die Wissenschaftler organisierten mehrere Fokusgruppen und diskutierten mit Migrantinnen. Außerdem integrierte die Radlobby in die gemeinsam mit der Mobilitätsagentur durchgeführten Radkurse ein Training, wie man sich ein Citybike ausborgt. Dessen Nutzen bestätigte sich in der späteren Befragung: „Das praktische Wissen, wie das funktioniert, ist gewachsen“, erklärt Segert.
Zwei Drittel machten mit
Die Forscher befragten dazu alle Teilnehmerinnen an den seit 2012 durchgeführten Radkursen für Migrantinnen. Mit erfreulich hohem Rücklauf: „119 von insgesamt 180 Frauen beteiligten sich, und das, obwohl eine Befragung rund 30 Minuten dauerte“, erzählt Segert. Die Ergebnisse belegen, dass zwei Drittel der Frauen nach dem Training eigenständig Rad fahren können, in den Fortgeschrittenenkursen sind es mehr als 90 Prozent. Die Befragung zeigte auch, dass nach dem erfolgreichen Abschluss des Kurses etwa jede zweite Frau keinen Zugang zu einem verkehrstüchtigen Rad hat. Wie ließe sich das ändern?
Leihräder oder ein eigenes Rad
Die Befragten wünschen sich einerseits mehr Leihradstationen in Wohnungsnähe – die meisten befinden sich ja in den Innenbezirken Wiens – und Anmeldemöglichkeiten in Türkisch und Arabisch. Mit zunehmender Kenntnis, wie man sich ein Citybike ausborgt, sank dieser Wunsch aber. Jede zweite Kursteilnehmerin wünscht sich andererseits ein eigenes Fahrrad. Gemeinsame Flohmarktbesuche oder im Kurs integrierte Kaufberatungen kamen daher gut an. Zugleich ortet die Forscherin bei den Befragten ein hohes Sicherheitsbedürfnis: „Sie wünschen sich mehr und sichere Radabstellanlagen.“
Was Segert am meisten überraschte: Rund 29 Prozent der Befragten wünschen sich ein Leihradsystem, das sich an den Bedürfnissen von Anfängerinnen orientiert. Sie regen etwa an, Leihräder vermehrt in verkehrsberuhigten Gegenden und in unterschiedlichen Größen anzubieten. „Dann könnten die Frauen eigenständig mit ihren Kindern üben und ihre Fähigkeiten weitergeben“, sagt Segert. Außerdem regen die Migrantinnen an, breitere Radwege zu schaffen. Maßnahmen, von denen einheimische Frauen, etwa Pensionistinnen, genauso profitieren könnten, so Segert. Die Soziologin präsentierte ihre Forschungsergebnisse gestern der Öffentlichkeit. Nun sei die Politik am Zug zu entscheiden, ob und was sich ändere. (Von Alice Grancy, Die Presse)