Kategorie Klima- & Umweltschutz - 22. August 2023

Alpengletscher schmelzen schneller als erwartet

Schon gegen 2050 wird es in den Ostalpen voraussichtlich nur noch in sehr hoch gelegenen, schattigen Gebieten Eisreste geben. Der überraschend rasante Gletscherschwund sollte auch zum Überdenken von Warnsystemen, Katastrophenfonds und Verbauungsmaßnahmen führen, erklärt die Glaziologin Andrea Fischer.

Am Jamtalgletscher ging es zuletzt besonders schnell. Um das Jahr 1850 reichte der Gletscher noch bis knapp vor die auf 2.165 Metern Seehöhe gelegene Jamtalhütte. 37,5 Meter Längenverlust weist der Gletscherbericht des Alpenvereins von 2021 auf 2022 hier aus – der zweithöchste Wert in der Silvrettagruppe nach dem Ochsentaler Gletscher (43 Meter Verlust). An den Kanten des Jamtalferners tropft das Schmelzwasser unaufhörlich. Klar zu sehen ist, dass der Eiskörper auch von unten ausgehöhlt wird. Der Gletscherbach präsentiert sich fast tosend, bei fast 15 Grad Celsius Tagestemperatur ist der Abfluss massiv.

Andrea Fischer, Forscherin am Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Innsbruck, kommt in etwa alle 14 Tage hier hinauf: „Es sieht jedes Mal anders aus.“ Die Forscherin und ihr Team begleiten zahlreiche Gletscher in den Ostalpen.  „Wir verlieren hier pro Tag um die zehn Zentimeter Eis“, ergab eine aktuelle Messung. Letztlich habe der Ferner unter diesen Klimabedingungen keine Chance, sich zu regenerieren. Im Gegenteil, er zerbröselt merklich, zerfällt in voneinander getrennte, weiter unten schon sehr schmutzige Eisfelder. In der Folge geht es schnell, so Fischer.

Andrea Fischer

© APA Johann Groder

Geltscherschmelze stärker als erwartet

Von dort, wo der Eiskörper noch 1980 endete, sind es mittlerweile hunderte Meter Luftlinie zum heutigen Ursprung des Gletscherbaches. Der wird sich noch viel weiter nach oben verlegen, bis in rund zehn Jahren mehr oder weniger nichts mehr von dem einst stolzen Gletscher übrig sein wird, schätzt die Glaziologin: „Kurzfristig ist er nicht mehr zu retten. So ist der Gletscher schon jetzt ein Stück Vergangenheit. Er ist ein Schatten seiner selbst und liegt in den letzten Zügen.“ Einzig ein sehr großer Vulkanausbruch, der der Erde viel Abkühlung bringt, könne diese Entwicklung noch bremsen.

Dass es tatsächlich derart rasch gehen kann, wurde erst in den vergangenen Jahren deutlich. Das Ende der Gletscher, dieser für die Alpen so ikonischen Strukturen, mussten die Wissenschafter:innen gegenüber früheren Prognosen „um mehrere Jahrzehnte“ vorverlegen. Spätestens 2050 werden sie in den Ostalpen Geschichte sein.

 

© APA

Geschätzte sechs Prozent ihrer Fläche verloren Österreichs Gletscher alleine im Jahr 2022. Der heuer in vielen Regionen niederschlagsreichere Sommer mit späten Schneefällen verbessert die Situation kaum. Denn trotz des gefühlt schlechteren Wetters schmelzen die Gletscher sehr stark.

Gefärbte Eisoberfläche taut schneller auf

In den 1970er und 1980er Jahren dominierte in höheren Lagen noch weiß und bläulich schimmerndes Eis sowie auch über weite Teile des Sommers aufliegender Schnee und Firn. Die gefärbte Eisoberfläche taut schneller auf, weil die dunklen Steine sich im Sonnenschein viel stärker erwärmen. Gleichzeitig nagt das abfließende Schmelzwasser von unten am Eis, dessen Zerbrechen sich an den Rändern immer wieder hörbar manifestiert. Diese rapiden Veränderungen könne man als eine Art neue Ära ansehen. „Der großflächige Zerfall der Gletscher ist ein neues Phänomen, das wir erst seit drei bis vier Jahren so beobachten“, sagt Fischer.

Es müssen nun völlig neue Modelle für den Übergang in die bis auf winzige Reste eisfreien Ostalpen der nächsten Jahrzehnte entwickelt werden – auch um die folgenden Entwicklungen in den höher gelegenen Gletschern in den Westalpen oder auf anderen Gebirgsketten der Welt besser zu verstehen, auf die zeitversetzt ähnliche Abläufe zukommen.

Die Aufgabe der Wissenschaft liegt für Fischer und ihre Kollegen darin, dies datenbasiert und systematisch zu analysieren, Prognosen abzuleiten und die Rasanz des Schwundes sachlich dazustellen. Vielen Menschen fehle es an Bewusstsein, viele täten sich schwer mit dem Gedanken, dass eine graduell ablaufende Entwicklung einen Kipppunkt überschreiten und ab dann viel schneller ablaufen kann.

Schäden in den Tälern

Dieses Kippen wird auch weiter unten in den Tälern spürbar, ist die Forscherin überzeugt. Die Sediment- und Wassermassen müssen vom Berg herunter. Kommt es im Hochgebirge zu starken Niederschlägen, die auch ganz oben nicht mehr in Form von Schnee fallen, rinnt das Wasser ungebremst über das blanke Rest-Gletschereis. Zusammen mit dem vielen Schmelzwasser können hier große Wasser- und Gesteinsmassen in Bewegung kommen, die Orte bedrohen und in den Tälern Schäden anrichten.

Bis die Gletscher und viele Permafrostböden aufgetaut sind, muss sich in den kommenden Jahren der gesamte Naturraum neu ordnen. Dabei ist etwa unklar, wie sich Eisreste auf Hangrutschungen auswirken können. Die Wissenschafter versuchen all das zu erforschen und zu dokumentieren. Vielfach fehlen aber auch die nötigen Personalressourcen.

Letztlich braucht es das alles, um ein Frühwarnsystem zu etablieren, das auf die neuen Bedingungen abgestimmt ist, betont die Glaziologin. Es muss darüber nachgedacht werden, ob eher in kostenintensive Verbauungen investiert oder vor allem die Warnsysteme verbessert werden und der Katastrophenfonds aufgestockt wird, um aus den Mitteln Geschädigte am „Übergang in eine wärmere Welt“ zu entschädigen. Ein Comeback für die Alpengletscher, vielleicht gegen Ende des Jahrhunderts, könne es jedenfalls nur geben, wenn jetzt echte Klimaschutzmaßnahmen umgesetzt würden.

Service:

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Klimastatusbericht 2022 warnt vor Folgen massiven Gletscherschwunds