Kategorie Innovation & Technologie - 18. November 2016
Ein wandelbarer Mantel für das Gebäude
Wenn uns kalt wird, stellen wir die Haare auf. Als wir noch ein Fell hatten, wirkte das als Wärmedämmung. Und wenn uns heiß ist, schwitzen wir, um wieder abzukühlen. Der menschliche Körper ist ein Vorbild für die Forschung von Brian Cody. Denn auch Wind und Wetter ändern sich – abhängig von Tages-, und Jahreszeit und der Klimazone. Manchmal sei es finster und habe minus zehn Grad Celsius, manchmal hell bei plus 30 Grad. Die Gebäudehülle bleibt, zumindest derzeit, aber immer gleich, verändert sich nicht.
„Sie dient momentan in erster Linie als Schutz, um das Klima im Inneren zu bewahren“, sagt Cody. Höchste Zeit also für einen Paradigmenwechsel, findet der Leiter des Instituts für Gebäude und Energie der TU Graz, der einst etwa beim Energie- und Klimakonzept für den preisgekrönten Neubau der Europäischen Zentralbank mitwirkte. Die Idee: Die Fassade solle die Umwelt nicht abschirmen, sondern etwa Sonne und Luft durchlassen, wenn sie für ein behagliches Klima im Innenraum gebraucht werden. Es gelte, nicht länger gegen die Natur anzukämpfen, sondern – nach dem Prinzip asiatischer Kampfsportarten – die Kraft des Gegners bestmöglich zu nutzen.
Was bringt die smarte Fassade?
Das gab es in Ansätzen schon bisher: mit Fensterbalken oder Markisen an den Häusern. Aktuell arbeiten Unternehmen bereits an doppelschaligen Fassaden, die die Außenhaut öffnen und schließen. Genaues Wissen, wie groß das Energiesparpotenzial insgesamt ist und wo man ansetzen muss, fehlte aber bisher. Cody hat im vergangenen Jahr in einem vom Technologieministerium im „Stadt der Zukunft“-Programm geförderten Projekt zur Smarten Fassade ein Simulationswerkzeug entwickelt, das eine Basis für die weitere Entwicklungsarbeit liefern soll. Dazu verband das interdisziplinäre Team aus Architekten und Ingenieuren bereits vorhandene Software; was fehlte, programmierten die Forscher dazu.
Schließlich berechneten sie für jede Stunde eines Jahres, wie sich beispielsweise Licht, Sonnenenergie, Wärmeverlust oder Luftdurchlässigkeit auf Raumklima und Energieeffizienz auswirken oder welchen Unterschied es macht, ob jemand zu Hause ist oder nicht – mit einem fantastisch klingenden Ergebnis: „Mit einer dynamischen, sich aktiv anpassenden Fassade ließe sich der Energiebedarf in einem mitteleuropäischen Büro um 85 Prozent reduzieren“, so Cody. Das Einsparpotenzial eines nach Süden ausgerichteten Wohnzimmers sei ähnlich hoch. Nach Norden ausgerichtete Schlafräume brauchten immerhin 80 Prozent weniger Energie, würden also mit einem Fünftel des aktuellen Bedarfs auskommen.
Von Wien bis Moskau
Diese Größen berechneten die Wissenschaftler einerseits für Wien, andererseits aber auch für Städte, die typisch für andere Klimazonen sind: etwa für Singapur mit seinen konstant warmen Temperaturen, Moskau mit seinem kalten Winter oder Dubai, wo im Sommer extreme Hitze herrscht. Das Ergebnis ist ein Modell, das zeigt, wo man ansetzen muss: „Jetzt wissen wir, was wir beachten müssen“, sagt der Ire, der seit 2003 in Graz lebt und forscht. Dabei gelte es auch, Innenräume zu berücksichtigen: Ist ein Raum überfüllt oder vielleicht leer? Die meisten Menschen nutzen ihr Wohnzimmer etwa nur wenige Stunden pro Woche.
Gebäude wirkt wie Kraftwerk
Kombiniert mit Künstlicher Intelligenz könnte künftig ein Computer die Fassade steuern: „Das Gebäude lernt die Gewohnheiten seiner Nutzer kennen, wann sie kommen und gehen, und trifft Entscheidungen, wie sich das Raumklima für sie optimieren lässt“, erläutert Cody die Vision. Die smarte Fassade kann auch in die Zukunft blicken und Entscheidungen planen, etwa weil sie den Wetterbericht kennt.
Rund zehn Jahre werde es wohl noch brauchen, bis solche intelligenten Fassadensysteme für die Praxis bereit sind, meint der Forscher. In einem nächsten Schritt wollen die Grazer Wissenschaftler jedenfalls Kooperationen mit anderen wissenschaftlichen Instituten und der Industrie eingehen. Dann sollen nach und nach neue Materialien und Techniken entwickelt und getestet werden.
Codys Ideen reichen aber noch weiter. Er will die „negativen Einflüsse von Gebäuden eliminieren“: Diese brauchten derzeit Energie und Ressourcen, würden Lärm erzeugen und Schatten auf die Straßen werfen. „Wir müssen Gebäude planen, die die Umwelt positiv beeinflussen“, fordert er. Gebäude sollen künftig wie Kraftwerke wirken und Energie nicht nur für sich, sondern auch für die Umgebung produzieren.
Dass man dabei nicht von null auf 100 kommen könne, leuchtet Cody ein. Das von ihm nun festgemachte Energiesparpotenzial von Fassaden motiviert ihn aber, weiterzumachen. (Von Alice Grancy, Die Presse)