Kategorie Klima- & Umweltschutz - 16. Oktober 2023

Wird 2023 erstes Jahr mit +1,5 °C? Klimaforschende beunruhigt über andauernde Temperaturrekorde

Temperaturen überstiegen im September in Mitteleuropa die Durchschnittswerte um mehr als drei Grad Celsius – „Der September war komplett verrückt“ so das Fazit eines Wissenschaftlers

Fast durchgehend Sonnenschein und abends im T-Shirt im Gastgarten bis tief in die Nacht: Der Spätsommer wollte und wollte kein Ende nehmen. Meterologen vermeldeten so gut wie täglich neue Temperaturrekorde, im Osten Österreichs wurde selbst im Oktober noch eine Tropennacht verzeichnet, in der das Thermometer nicht unter 20 Grad fiel. Diese auffällig hohen Temperaturen zu Land wie auch in den Ozeanen rund um den Globus beunruhigen Klimaforschende zusehends.

 

„Uns gehen die Superlative aus, diesen Anstieg zu beschreiben“, so Zeke Hausfather, Wissenschaftler an der University of California Berkeley, gegenüber des deutschen Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL. Die weltweite Erhitzung bewege sich am oberen Rand der von den Klimamodellen vorhergesagten Temperaturen – in denen die Erwärmung bereits eingepreist ist. In mehreren aufeinanderfolgenden Monaten wurden Weltrekorde für die höchsten je gemessenen Werte aufgestellt. Der vergangene Monat stach dabei jedoch noch einmal heraus: „Der September war komplett verrückt“, so Hausfather.

Laut des Climate Reanalyzer der University of Maine war es an jedem einzelnen Septembertag die mittlere weltweite Temperatur höher als je zuvor an dem jeweiligen Tag seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1979. Ab Mitte September lag die weltweite Durchschnittstemperatur ständig rund ein Grad über den Mittelwerten der Jahre 1979 bis 2000. Eine besonders krasse Erwärmung gab es auch in den Weltmeeren. Die globalen Meeresoberflächentemperaturen übertreffen demnach schon seit März alle historischen Rekorde. Anomalien, die besonders auffällig sind, weil sich die Wassermassen langsamer erwärmen und besonders viel Energie speichern.

 

Extrem hoch waren die September-Temperaturen in Mitteleuropa. In Frankreich wurden durchschnittlich 21,5 Grad Celsius registriert – satte 3,6 Grad mehr als im Septembermittel der Jahre 1991 bis 2020. Auch in Belgien und Polen betrug die Anomalie 3,6 Grad – in Österreich waren es plus 3,2 Grad, im Mittel wurden 17,2 Grad Celsius gemessen.

Die höchsten Abweichungen zum Klimamittel lagen diesmal im Westen, Norden und Osten des Landes. In Vorarlberg und Nordtirol, im östlichen Oberösterreich, in Niederösterreich, Wien und im Nordburgenland war der September 2023 um 3,5 bis 4,5 Grad zu warm. Auch auf den Bergen lagen die Anomalien zum Klimamittel zwischen plus 3,5 und 4,8 Grad. In manchen Landeshauptstädten stieg die Zahl der Sommertage im meterologischen Herbst in bisher nicht da gewesene Höhen.

Die Omega-Wetterlage, die Österreich diesen unverhältnismäßig warmen September bescherte, hatte für Staaten an ihren südlichen Rändern dagegen daramatische Folgen, etwa für Griechenland, wo es zu verheerenden Starkregenfällen kam, aber auch in Spanien oder Libyen sorgte der außerordentlich viele Regen für katastrophale Überschwemmungen, was die Wissenschaft mit dem stark erwärmten Mittelmeer direkt in Zusammenhang bringt.

El Niño hat gerade erst begonnen

Besonders beunruhigt sind Experten, weil das Wetterphänomen El Niño, das die globalen Temperaturen nach oben treibt, erst am Anfang eines neuen Zyklus ist. „Wir sehen eine Kombination von Faktoren“, so Hausfather.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weisen noch auf zwei weitere Faktoren hin, die möglicherweise zu den unzähligen Klimaextremen in diesem Jahr beigetragen haben. Dabei gilt jedoch immer, die relativen Beiträge dieser anderen Einflüsse des menschengemachten Klimawandels zu analysieren.

Als ein in der Klimawissenschaft diskutierter Faktor ist die Verringerung der Schadstoffemissionen von Schiffen durch strengere Vorschriften, die seit 2020 für die Schifffahrt gelten. Man geht davon aus, dass die geringeren Emissionen von Sulfataerosolen, winzigen Partikeln, die unter anderem von Schiffsmotoren in großer Menge erzeugt werden, ungewollt zu einer stärkeren Erwärmung der Ozeane führen.

Die Klimaforschungsgruppe Berkeley Earth, der auch Hausfather angehört, hält in einem ihrer jüngsten Berichte jedoch fest, dass sich diese Auswirkungen hauptsächlich auf die großen Schifffahrtskorridore beschränken und die globalen Auswirkungen relativ gering sind – in der Größenordnung von etwa 0,02 °C (0,036 °F).

Als weiterer mutmaßlicher Faktor der Rekordwärme im Jahr 2023 wird der Ausbruch des Unterwasservulkans Hunga Tonga-Hunga Ha’apai im südlichen Pazifik im Jahr 2022 ins Spiel gebracht, der etwa 150 Millionen Tonnen Wasserdampf in die Stratosphäre geblasen hat.

Wasserdampf ist ein starkes Treibhausgas, und Computermodell-Simulationen zeigen, dass diese stratosphärische Injektion die Erwärmung bis zum Ende des Jahrzehnts verstärken könnte. Das Interessante: Der Ausbruch des Hunga Tonga hat laut Berkeley Earth den Wassergehalt der Stratosphäre um etwa 15 Prozent erhöht, ohne dass größere Mengen kühlenden Schwefeldioxids zugeführt wurden, wie dies bei anderen Vulkanausbrüchen der Fall war.

Zeke Hausfather sieht auch den Vulkanausbruch nicht im großen Stil für die Rekordtemperaturen des Jahres 2023 verantwortlich: „Es ist nicht nichts, aber letzlich nur ein kleiner Teil der Geschichte der außergewöhnlichen Wärme, die die Welt gerade erlebt.“

Andrew Dessler, Klimawissenschaftler an der Texas A&M University, ist ebenfalls der Meinung, dass die Bedeutung der Erwärmung durch den Vulkan im Vergleich zum vom Menschen verursachten Klimawandel und anderen Einflüssen verblasst. Dessler vergleicht den Klimawandel mit einer „steigenden Flut“, die die Ausgangstemperaturen für Hitzewellen anhebt. „Das bedeutet, dass unsere Hitzewellen heißer werden und im Wesentlichen auf der ’steigenden Flut‘ unserer sich erwärmenden Welt ’schwimmen“, so Dessler.

Seine Quintessenz: „Ich denke, was die Menschen schockiert, ist, wie schlimm die Auswirkungen zu sein scheinen. Wir überschreiten Schwellenwerte in unserer Welt, von denen die Menschen nicht wussten, dass es sie gibt.“

Laut den Berkeley Earth ist es bereits so gut wie sicher, dass 2023 das weltweit wärmste Jahr seit Beginn der Messungen wird. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 90 Prozent werde die mittlere Temperatur sogar mehr als 1,5 Grad über den Durchschnittswerten der Referenzperiode 1850 bis 1900 liegen.

Erderhitzung: Wärmster September der österreichischen Messgeschichte