Kategorie Klima- & Umweltschutz - 9. Januar 2024

»Gletscherforschung hat die Klimaforschung eigentlich erfunden« – Glaziologin Andrea Fischer ist Wissenschaftlerin des Jahres 2023

Gletscherforscherin, Abenteurerin, Eistänzerin: Andrea Fischer ist Österreichs Wissenschaftlerin des Jahres 2023. Die stellvertretende Leiterin des Instituts für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Innsbruck erhielt die Auszeichnung für die Vermittlung ihrer wissenschaftlichen Arbeit, in der sie seit Jahren die massive Gletscherschmelze in den Alpen aufzeigt.

Der Klub der Bildungs- und Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten will mit der heuer zum 30. Mal durchgeführten Wahl vor allem das Bemühen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auszeichnen, ihre Arbeit und ihr Fach einer breiten Öffentlichkeit verständlich zu machen. Damit soll auch das Bewusstsein für die Bedeutung von Forschung gesteigert werden.

Der Leiterin der ÖAW-Forschungsgruppe „Mensch-Umwelt-Beziehung, Hochgebirge“ und ihrem Team sei es „ein Anliegen, unsere Forschungsergebnisse verständlich zu kommunizieren, weil wir das Gefühl haben, dass hier etwas sehr Ungewöhnliches passiert: Den Klimawandel sieht man an den Gletschern am drastischsten, am besten und am intuitivsten“, sagte Fischer gegenüber der APA. Wenn man Bilder des Gletscherrückgangs sehe und Berichte darüber höre, „versteht man sofort, dass hier Dinge im Gang sind, denen wir Aufmerksamkeit schenken sollten“.

© ÖAW/Daniel Hinterramskogler

Fischer verwies bei der Preisverleihung auf die Bedeutung, eine Brücke vom Fach- zum Allgemeinwissen zu schlagen: „Aufklärung ist kein Selbstläufer und die wissensbasierte Gesellschaft, die wir alle gerne haben möchten, müssen wir uns alle tagtäglich neu erkämpfen, sonst wird es im Zuge des Klimawandels wieder zu Hexenverbrennungen kommen.“

Die „Botschaften der Gletscher“ seien wichtig, weil „wir in den sehr entwickelten Ländern natürlich zu den Hauptverursachern des Klimawandels zählen und auch die nötigen Ressourcen haben, um Methoden zu entwickeln und eine Vorreiterrolle einzunehmen, um den Klimawandel zu begrenzen“, sagte die Glaziologin, deren Arbeit auch von internationalen Medien, von der „Süddeutschen Zeitung“ über den „Guardian“ bis zur „Washington Post“, rezipiert wird. Die Auszeichnung zeige ihr, dass die Dinge, die sie und ihr Team zu erzählen versuchen, von den Menschen gehört werden.

Vor zehn Jahren verneinte Fischer noch die Frage, ob sie eine Gefahr sehe, dass die Gletscher ganz verschwinden. Mittlerweile geht sie davon aus, dass dies in den Ostalpen bereits 2050 der Fall sein wird. Der Grund dafür sei die „stark geänderte Dynamik der Klimaerwärmung“. Dadurch „passiert die Schmelze nicht nur an der Oberfläche, sondern im gleichen Ausmaß auch am Untergrund. Die Gletscher sind großflächig unterhöhlt, das Schmelzwasser und die durchströmende warme Luft verdoppeln die Schmelzraten.“

Die Veränderung geht dabei rasant: „Als ich begonnen habe, Gletscher zu vermessen, haben wir selbst im September zu Mittag kein Schmelzwasser vorgefunden. Jetzt stehen wir im November am Gletscher und es tropft.“ Die hohen Temperaturen würden soweit in das Gestein eindringen, dass dort tiefere Schichten auftauen und es zu großräumigen Steinschlag- und Felssturz-Aktivitäten komme. „Das sind völlig neue Prozesse, deren Auswirkungen wir jetzt noch nicht zu 100 Prozent voraussagen können, auf die wir wirklich genau hinschauen müssen“, so die ehemalige Staatsmeisterin im Eisklettern und begeisterte Bergsportlerin, die 2020 den Gegenstand ihrer Forschung in dem gemeinsam mit dem Fotografen Bernd Ritschel verfassten Buch „Alpengletscher – Hommage an die hochalpine Welt aus Eis und Firn – ehe sie verschwindet“ (Tyrolia) dokumentiert hat.

So wie man sich eine Gletscherschmelze im aktuellen Ausmaß lange nicht vorstellen konnte, könnte es auch „im gesamten Klimasystem Effekte geben, die wir noch nicht kennen. Und das sollte uns besonders vorsichtig werden lassen“, betonte die Wissenschaftlerin des Jahres. Es gehe dabei nicht nur um die Begrenzung der Treibhausgasemissionen zur Eindämmung des Temperaturanstiegs, „sondern auch darum, welche Anpassungsmaßnahmen wir jetzt treffen müssen, um in den Alpen, die ein sehr sensibler Bereich sind, was Naturgefahren betrifft, weiter gut leben zu können“.

Ostalpen Vorreiter des Gletscherschwunds

Das Hauptproblem durch den Klimawandel werde nicht der Verlust der Gletscher sein, sondern beispielsweise die Starkniederschläge, die Reaktion der Ökosysteme und die Schutzwälder. „An den Gletschern sehen wir nur, dass hier etwas sehr Ungewöhnliches im Gange ist“, so Fischer, die allerdings dafür plädierte, bei der Interpretation der Ereignisses „sehr vorsichtig“ zu sein. „Wir brauchen eine gemeinsame Anstrengung aller Bevölkerungsgruppen, um den Klimawandel in den Griff zu bekommen, und hier ist es wichtig, eine solide und möglichst wenig spekulative Basis zu haben.“ An das Unvermeidliche müssten Anpassungsmaßnahmen getroffen werden, „wir müssen uns aber auch entscheiden, welches Ausmaß des Klimawandels wir als akzeptabel anstreben und wofür wir bereit sind zu investieren“.

Mit der Gletscherschmelze geht auch ein einzigartiges, 6.000 Jahre zurückreichendes Klimaarchiv verloren, denn im Eis eingeschlossen finden sich verschiedene Hinweise auf das frühere Klima. Fischer und ihre Kollegen versuchen daher in intensiven Arbeitseinsätzen mit Bohrungen Eiskerne aus den schwindenden Gletscher zu bergen und so diese gefrorenen Daten zur Klimageschichte zu retten.

Die Ostalpen seien ein Vorreiter des Gletscherschwunds, in anderen Weltregionen wie Skandinavien, Alaska oder auch Hochgebirgen wie dem Himalaya zeige sich der Klimawandel durch die Gletscherschmelze verzögert. „Unsere Gletscher sind Micky-Maus-Gletscher im Vergleich zu den Gletschern der Welt, aber wir haben hier ein einzigartiges Laboratorium für die anderen Regionen“, sagte Fischer und verwies etwa auf die neuen Methoden, die hierzulande entwickelt werden, um den Zerfall der Eismassen überhaupt noch messen zu können.

Angesichts der Bedeutung des Themas mutet es verwunderlich an, dass die schon lange zurückreichenden Gletschermessungen in Österreich weitgehend auf freiwilliger Basis durch engagierte Einzelpersonen bzw. auf Vereinsbasis erfolgen. Mitte des 19. Jahrhunderts sei bei der Gründung der Hydrografischen Dienste und der Zentralanstalt für Metrologie und Geodynamik auf die Glaziologie vergessen worden, „das haben wir bis heute nicht aufgeholt“. So gebe es hierzulande keine einzige öffentlich finanzierte Permafrost-Messung. Dabei reiche der Permafrost teilweise bis auf 1.200 Meter Seehöhe, wodurch auch das Siedlungsgebiet durch dessen Auftauen bedroht sei. Fischer erachtet es deshalb als „sehr wichtig, dass wir die Forschung auf gesündere Füße stellen und eine Basisfinanzierung für die verschiedenen Messreihen finden“.

Wenn die Gletschermessungen auf offizielle Beine gestellt werden sollten, kann sich Fischer vorstellen, „dass die Hydrografie ein Rolle spielen kann, aber ebenso das Klimaministerium“. Der Aufwand dafür sei „relativ gering, mit 150.000 Euro pro Jahr kann man alle Dinge bedienen“. Wichtig wäre aber, nicht nur die Messungen durchzuführen, „sondern auch einen sehr guten Kommunikationsstrang daran zu hängen“.

In den vergangenen Jahren haben der Biodiversitätsforscher Franz Essl (2022), der Komplexitätsforscher Peter Klimek (2021), die Virologin Elisabeth Puchhammer (2020), die Historikerin Barbara Stelzl-Marx (2019) und der Chemiker Nuno Maulide (2018) die Auszeichnung erhalten.

apa/red