Kategorie Mobilität - 20. Februar 2019

Lkw als tödliche Gefahr: Kampf gegen Totwinkel-Unfälle im Stadtverkehr

Unfälle mit Lkw enden oft tödlich. Besonders in Städten gibt es eine Häufung solcher Fälle, vor allem bei Abbiegemanövern, wenn Menschen zu Fuß oder auf zwei Rädern dem Schwerkraftverkehr trotz Vorrangs gefährlich in die Quere kommen. Die Liste der Fälle ist lang. Zu lang, denn hinter jedem Fall steckt ein furchtbares Schicksal. Auch wenn es nicht alleine Kinder betrifft, sind es meist höchst emotionale und aufrüttelnde Nachrichten.

Alleine im Vorjahr sind in Österreich nach vorläufigen Daten Lkw an 14 tödlichen Fußgänger- und Radfahrerunfällen beteiligt gewesen. Dabei ist das Muster oftmals das gleiche: Lkw-Fahrer oder -Fahrerinnen übersehen die anderen Verkehrsteilnehmenden beim Abbiegen. Schätzungen der Unfallforschung  gehen davon aus, dass etwa ein Drittel der jährlich im Straßenverkehr getöteten Radfahrenden bei Abbiegeunfällen durch rechtsabbiegende Lkw ums Leben kommen. Derartige Unfälle sind jedoch selten von Fahrradfahrern verschuldet. Und es gäbe durchaus Möglichkeiten, diese Gefahr zu senken.

© Daimler

Rundum-Sicht im Straßenverkehr

Das Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie (BMVIT) hat sich dieser heiklen Materie bereits 2017 angenommen und testet Abbiegeassistenten an Lkw und Bussen in einem Pilotversuch in Zusammenarbeit mit dem Institut für Fahrzeugsicherheit (VSI) der TU Graz. Das VSI der TU Graz beschäftigt sich umfassend mit Forschungen im Bereich der Transportsicherheit mit speziellem Fokus auf der Unfallforschung und Integrale Fahrzeugsicherheit. Die Pilotversuche zum Abbiegeassistenten mit dem Namen Rundum-Sicht im Straßenverkehr wurden im Herbst 2018 mit Bundesmitteln bis zum Frühjahr 2019 auf volle zwei Jahre verlängert, um – wie das VSI uns bestätigte – eine bessere wissenschaftliche Evaluierung zu gewährleisten.

Zur Erklärung: Abbiegeassistenten oder Abbiegeassistenzsysteme sind sicherheitswirksame technische Einrichtung in Kraftfahrzeugen, die Verkehrsteilnehmer als Radfahrer oder Fußgänger im direkten Umfeld am Fahrzeug erkennt und Lenker oder Lenkerinnen akustisch, optisch oder in sonstiger Weise warnt, um bei Bedarf eine Notfallbremsung einzuleiten.

 

Das vom BMVIT initiierte und vom Verkehrssicherheitsfond (VSF) teilfinanzierte Projekt soll die Gefahr von Unfällen mit Lkw und Bussen sowie deren immens großen toten Winkel minimieren. Österreichweit sind dabei 20 Fahrzeuge (15 Lkw und 5 Busse) mit einem Assistenten des Typs Mobileye Shield+ System ausgestattet und so in Graz, Wels und Wien hauptsächlich innerorts unterwegs. So konnten bisher unter anderem Unterschiede der Gefährdungszonen zwischen Lkw und Bussen erkannt, aber auch innerstädtische Gefahrenstellen verortet werden.

Potentielle Unfälle beim Abbiegen fallen dabei nicht alleine in das Gefährdungsmuster. Eine mindestens ebenso große Gefahr geht von Frontalzusammenstößen bei Ausfahrten oder beim Anfahren, auch an geregelten Kreuzungen, aus. Ein nicht zu vernachlässigender Totwinkel, der bei großen Fahrzeugen bis zu 2,50 Meter ausmachen kann.

Insellösung für Österreich?

Die nächsten Schritte des Projekts sahen simulierte Vergleiche bei Fahrten mit und ohne Toter-Winkel-Assistenzsystem auf Grund von rekonstruierten Realunfalldaten vor, wobei folgende Fragen im Vordergrund stünden: Wie viele Unfälle können auf Grund neuer Sicherheitssysteme vermieden werden? Welche Auswirkungen hat diese Art autonomes Fahren auf die Verkehrssicherheit? Ändern sich die Unfalltypen? Welche Rolle spielt die Infrastruktur?

Fragen, die auch bei einem Lkw-Sicherheitsgipfel im BMVIT am Dienstag diskutiert wurden. Experten und Expertinnen sowie Spitzen der Politik berieten über das weitere Vorgehen in Sachen Schutzmechanismen bei Lkw und Reduktion des toten Winkels. Die politische Debatte in Deutschland zu den Abbiegeassistenten, aber vor allem der aktuelle Fall eines neunjährigen Buben, der am Schulweg vom Lkw tödlich verletzt wurde, gingen dem Gipfel voraus und drängten zu Lösungsvorschlägen.

Klar ist nun: Österreich wird Abbiegesysteme für Lkw nicht vor der EU zwingend einführen. Das betrifft sowohl neue Lkw als auch die Nachrüstung des Altbestandes.

Zwar möchte die EU Abbiegeassistenten für neue Lkw vorschreiben – jedoch erst im Jahr 2022 für neue Fahrzeugtypen und ab 2024 für alle Neufahrzeuge. Hier möchte die Regierung sich für eine frühere Umsetzung einsetzen. Auch ein eigens eingerichtetes Förderprogramm für einen freiwilligen Einbau solcher Systeme soll zu einer schnelleren Marktdurchdringung solcher Assistenzsysteme führen. Dieses Fördersystem für einen freiwilligen Einbau werde im Verhältnis höher dotiert sein als die fünf Millionen Euro, die bereits in Deutschland im Gespräch sind. Eine genaue Summe werde nach den Verhandlungen mit dem Finanzministerium bekannt gegeben, sagte Hofer am Abend nach dem Gipfel in der ZIB2.

In Deutschland hatte der Bundesrat im Sommer 2018 die Bundesregierung aufgefordert, sich gegenüber der Kommission dafür einzusetzen, dass in den Typengenehmigungsvorschriften schnellstmöglich Abbiegeassistenzsysteme bei Nutzfahrzeugen ab 7,5 t zulässigem Gesamtgewicht verpflichtend vorgeschrieben werden.

Ein wesentlicher Punkt und gleichzeitiges Dilemma in der Debatte, denn ohne einheitliche Vorschrift auf EU-Ebene, wären nur unbefriedigende und rechtlich vage Insellösungen für einzelne Länder möglich. Wie sollte beispielsweise mit ausländischen Lkw umgegangen werden, die ohne Assistenzsysteme in Österreich unterwegs wären? Wer sollte das auf welchen Wege kontrollieren? Auch wenn es drei wesentliche Richtungen an Systemen existieren – Kamerabasierend, Radarsysteme und Softwarebasierend – liegen die technischen Spezifikationen von Seiten der EU noch nicht vor. Es ist also derzeit vollkommen unklar, auf welche Technologie sich die verpflichtenden Assistenzsysteme beziehen werden bzw. welche Hersteller die Ausrüstung bereit stellen werden.

Dazu kommt, dass Abbiegeassistenten keinen vollständigen Schutz liefern können. Auch wenn das VSI der TU Graz zu einer klaren Empfehlung für solche Systeme gelangen sollte – was derzeit sehr wahrscheinlich ist – liegen weiterhin einige Unschärfen und kaum abstellbare Gefahren selbst bei Fahrten mit installierten Sicherheit-Tools. Ernst Tomasch, Projektleiter am Institut erinnerte an zahlreiche Situation, in denen die Assistenzsysteme in dieser Form nicht ausreichend funktionierten: Beim Anfahren von Bussen und Lkw ist beispielsweise der Frontbereich noch viel zu wenig abgedeckt und dieser Totwinkel auch damit nicht eliminiert. Hier wäre es aus Sicht des VSI empfehlenswert eine Wegfahrsperre mit dem System zu kombinieren, sodass ein Losfahren nicht möglich ist, sofern sich ein Fußgänger im toten Winkel vor der Fahrerkabine befindet.

Wie sieht es aus bei Baufahrzeugen, die auch in Städten jederzeit zum Einsatz kommen und nicht in jedem Fall mit technischen Assistenten ausgerüstet werden können?

Auch dazu muss auf europäischer Ebene eine gemeinsame Lösung erarbeitet werden, die möglichst bald eine einheitliche Regelung vorschreibt. Eine Chance, auch mit Deutschland und anderen Ländern den Schulterschluss zu suchen, um sich vehement für eine frühere europaweite Umsetzung in dieser Frage einsetzen zu können.

Technisch ausgereift sind die wenigsten der am Markt verfügbaren Systeme. Viele Tests und Feinjustierungen sind nötig und selbst dann werden parkende Autos, Bäume, Sträucher und dergleichen am Straßenrand nicht zuverlässig von sich bewegenden Personen unterschieden.

„Gerade bei Fußgehern sind das unmittelbare Anhalten, Losgehen und Richtungswechseln eine besondere Herausforderung, die bei anderen Verkehrsteilnehmern nicht vorliegt. Zu welchem Zeitpunkt muss nun gewarnt werden? Wenn der Fußgänger noch vier bis fünf Meter vom Fahrbahnrand entfernt ist? In diesem Zeitraum kann er seine Richtung wechseln oder stehen bleiben. Das ist auch mit ein Grund, warum es zu vermeintlichen und vielleicht auch wahrgenommenen Fehlmeldungen kommt“, gibt Tomasch zu bedenken.

Vorläufiges Maßnahmenpaket zur Lkw-Sicherheit

Aktuell stünden kurzfristige Maßnahmen im Vordergrund so Verkehrsminister Norbert Hofer. Dazu gehören auch Änderungen der StVO und schnell umsetzbare Infrastrukturmaßnahmen. Falls eine Kreuzung nicht sicherbar ist, sollen Gemeinden ein Rechtsabbiegeverbot für Lkw einführen können. Möglich wird das durch eine Änderung der Straßenverkehrsordnung. Darin soll Gemeinden eine diesbezügliche Verordnungsermächtigung erteilt werden.

Dazu soll im Parlament eine Veränderung der Straßenverkehrsordnung StVO in die Wege geleitet werden, um es Städten und Gemeinden künftig zu erlauben, an potentiell gefährlichen Kreuzungen, die durch Umbaumaßnahmen nicht entschärft werden können, ein Abbiegeverbot für Lkw zu erlassen. Bislang war es immer nur möglich, einen Unfallhäufungspunkt zu entschärfen, nachdem die Unfälle schon passiert sind. Ziel sei es, die Novelle bereits zu Beginn des Schuljahres 2019/2020 in Kraft treten zu lassen.

Ein Schwerpunkt solle auch die Bewusstseinsbildung sein. Besonders gefährdete Gruppen wie ältere Verkehrsteilnehmer und Kinder – beide übrigens vom Vertrauensgrundsatz im Straßenverkehr ausgenommen – sollen sensibilisiert, eine Informationskampagne zum toten Winkel gestartet werden. Parkplätze der Asfinag sollen mit Schablonen ausgestattet werden, die bei der korrekten Ausrichtung der Lkw-Spiegel helfen sollen. Bei Mineralölfirmen will das Ministerium für ähnliche Plätze bei Tankstellen werben.

Gleichzeitig werde Österreich in der EU darauf drängen, um möglichst rasch eine Aussage über die Spezifikationen der Assistenz-Systeme zu erhalten, um hier europaweit als erstes Land entsprechend tätig zu werden. „Die freiwillige Nachrüstung werden wir in Österreich auch finanziell unterstützen“, kündigt Norbert Hofer an und nimmt damit auf eine Forderung Bezug, die jüngst von der Stadt Wien und der Wiener Wirtschaftskammer im Zuge der Sicherheitsdebatte geäußert wurde.

Die Stadt Wien stellte vor dem Gipfels für die Ausrüstung der Wiener Lkw mit Abbiegeassistenten eine Million Euro in Aussicht. Bereits im Vorfeld wurde bekannt, dass neben der Stadt Wien auch Klagenfurt entsprechende Geräte an der eigene Flotte testen möchte.

Beim Österreichischen Bundesheer werde die Causa Abbiegeassistenten gerade beurteilt, Fachleute würden prüfen, ob eine Nachrüstung der weit über 1.000 Lkw über 3,5 t möglich ist. Heeressprecher Michael Bauer wies allerdings daraufhin, dass im Heereskraftfahrdienst Lkw immer zu zweit gefahren werden, also Fahrer mit Beifahrer. Dadurch gebe es beim Bundesheer auch automatisch bereits eine „andere Sensibilisierung“.

Auch viele Unternehmen aus der Logistikbranche sind durch die anhaltende Debatte zur freiwilligen Umrüstung bereit. Bei der Österreichischen Post sind im Eigenfuhrpark 140 Lkw über 3,5 Tonnen im Einsatz und es wurde mit den Herstellern bereits Kontakt aufgenommen, wie sich vorhandene Lkw nachrüsten ließen.

Drastischer geht London gegen Lkw mit gefährlich großem toten Winkel vor: Diese sollen künftig aus der Stadt verbannt werden. Die Verwaltung plant zu diesem Zweck ein Bewertungssystem für die Übersichtlichkeit der Nutzfahrzeuge, Modelle mit schlechter Einstufung sollen ab 2020 nicht mehr in die Innenstadt einfahren dürfen. Betroffen wären nach Medienberichten rund 35.000 Fahrzeuge.

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