Kategorie Energie - 27. Juli 2022
So abhängig ist die europäische Nuklearindustrie von Russland
Eine Renaissance der Kernkraft wurde in den vergangenenen Jahren schon mehrmals verkündet. Bereits vor dem furchtbaren Angriffskrieg Russlands in der Ukraine war die Kernenergie als Schlagwort zur Energiewende medial wieder sehr präsent. Ein Ausbau dieser Technologie wurde – entgegen vieler Expertisen – gar als Klimaschutz-Variante ins Spiel gebracht. Zuletzt hatte die Einstufung der Kernkraft als klimafreundliche Investitionen und damit als grün für heftige Kritik gesorgt.
Frankreich gilt als einer der Treiber für dieses grüne Label der Kernkraft und hat erst Anfang Februar, zwei Wochen vor dem Einmarsch Russlands in der Ukraine, einen massiven Ausbau der Kernkraft angekündigt. Auch Belgien plante damals bereits mit der Verlängerung der Laufzeiten für zwei umstrittene Kernreaktoren – trotz Verstoßes gegen EU-Recht. Und auch in Deutschland ist längst eine Debatte zur Laufzeitverlängerung entbrannt, die mit Dauer des Krieges und der prekären Energiesituation so gut wie jede Woche neu befeuert wird.
Fest steht, dass vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine die pro-nuklearen EU-Mitgliedstaaten den Ausbau und Weiterbetrieb der Kernenergie vorantreiben wollen. Begründet wird dies stets damit, dass so der Energieabhängigkeit von Russland und den hohen Energiepreisen begegnet werden soll.
Tatsächlich aber führen uns die dramatischen Ereignisse in der Ukraine drastisch vor Augen, welche Probleme im Zusammenhang mit der Kernenergie bestehen und bestätigen die auch von Österreich und dem Klimaschutzministerium (BMK) seit langem vorgebrachte Kritik: Neben der extremen Verwundbarkeit und dem enormen Gefahrenpotential von Kernkraftwerken (KKW) im Krieg bestehen bei der Nutzung der Kernenergie enorme Abhängigkeiten von Russland.
Um diese Abhängigkeiten und Verflechtungen genauer zu beleuchten hat das BMK eine Hintergrundanalyse der Verflechtungen der Rosatom-Aktivitäten mit der EU beim Umweltbundesamt in Auftrag gegeben. Die Analyse belegt eindeutig die vielfältigen Verknüpfungen und Kooperationen wie auch eine äußerst starke Abhängigkeit der Euratom-Betreiberstaaten von Russland hinsichtlich Kernbrennstoffen und Technologie.
Die Nutzung der Kernenergie erhöht demnach keineswegs die Versorgungssicherheit, sondern hat die Euratom Betreiberstaaten in eine Abhängigkeit von Russland gebracht. Kernenergie ist so mitnichten eine „heimische“ Energie, zumal der Grundrohstoff Natururan zu über 99 Prozent importiert werden muss.
Im Mittelpunkt steht dabei die Föderale Agentur für Atomenergie Russlands, kurz Rosatom, eine staatliche Holding mit insgesamt knapp 300 Unternehmen, welche die zivile und militärische Atomindustrie Russlands kontrolliert und direkt der russischen Regierung unterstellt ist.
Rosatom arbeitet dabei nicht nur in der zivilen Nutzung der Kernenergie, sondern mit 90.000 der insgesamt 275.000 Beschäftigten auch im Komplex der Kernwaffen. Die Euratom Betreiberstaaten kooperieren in unterschiedlichen Formen mit Rosatom. Importiert wird russisches Natururan, russische Uranprodukte, russische Brennelemente und russische Dienstleistungen im Bereich Bau, Betrieb, Rückbau und Modernisierung von Kernkraftwerken.
Auch bei der Wartung und der Lieferung von Ersatzteilen spielt Rosatom vor allem bei russischen Reaktortypen in der EU eine wichtige Rolle. Darüber hinaus entwickelt, liefert und modernisiert Rosatom Simulatoren für das Training der Operateure von Reaktoren russischer Bauart.
In Europa deckt Rosatom rund 26 Prozent der Urananreicherungsdienstleistungen ab. Rosatom exportiert angereicherte Uranprodukte unter anderem nach Frankreich, Deutschland, Spanien, Großbritannien, Belgien, Schweden, Finnland, Schweiz und Tschechien. 48 Prozent der Exporte der Rosatom im Bereich der Anreicherungsdienstleistungen gehen in diese Länder. Auch außerhalb Europas exportiert Rosatom: in die USA, nach Kanada und Mexiko gehen 36 Prozent der Gesamt-Exporte. Rund 30 Prozent von Rosatoms Auslandsumsatz geht auf Einnahmen aus dem Brennstoffzyklus zurück. Im Jahr 2021 versorgte Rosatom 21 Kernreaktoren in der EU mit Brennelementen. Bulgarien, Ungarn, Slowakei und Tschechien sind zu 100 Prozent von Brennelementen von Rosatom abhängig – Finnland zu 35 Prozent.
So gibt es in Europa Kernreaktoren russischer Bauart, von denen einige bei der Brennstoffversorgung komplett vom russischen Konzern abhängig sind. Aber auch westeuropäische Kernkraftwerke sind bei weitem nicht unabhängig von Russland. So arbeitet beispielsweise der französische Konzern Framatome eng mit TVEL zusammen, um Brennelemente für drei Reaktoren in Westeuropa zu liefern. TVEL ist eine Tochter von Atomenergoprom und untersteht vollständig der Rosatom.
Die Verflechtungen zwischen Rosatom und europäischen Unternehmen reichen jedoch weit über Frankreich (Framatome und GE Alstom) hinaus und betreffen ebenso Deutschland (Siemens und Nukem), Ungarn (Ganz EEM) und Tschechien (ARAKO). Die Verknüpfungen reichen letzten Endes auch bis zu Neubauprojekten von russischen Kernkraftwerken wie etwa bei Akkuyu in der Türkei, El Dabaa in Ägypten oder Leningrad II in Russland.
Finnland hat unterdessen den geplanten Bau des KKW Hanhikivi 1 in Pyhäjoki – etwa 500 Kilometer nördlich von Helsinki – nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine gestoppt. Die Planungs- und Lizenzierungsarbeiten als auch die Arbeiten am Standort sollten ursprünglich in Zusammenarbeit mit einem Rosatom-Tochterunternehmen durchgeführt werden. Bereits in den letzten Jahren war es auch dabei zu erheblichen Verzögerungen gekommen. Begründet wurde der Schritt im Mai mit dem Krieg in der Ukraine, wodurch sich „die Risiken für das Projekt weitaus vergrößerten“. Es wäre praktisch unmöglich gewesen, das Projekt zu verwirklichen.
SERVICE: Analyse der Rosatom-Aktivitäten bzw. Rosatom-Verflechtungen mit der EU