Kategorie Klima- & Umweltschutz - 19. Juni 2023

Nach Zerstörung des Kachowka-Damms kämpft die Ukraine mit einer Umweltkatastrophe

Zerstörung des Damms und Auslaufen des Sees haben auch Naturschutzgebiete schwer getroffe, die Ukraine erlebt abermals eine ökologische Katastrophe

Tausende Hektar Wald, Naturschutzgebiete und Ackerflächen haben die Wassermassen aus dem zerstörten Kachowka-Stausee im Süden der Ukraine überschwemmt. Im Gebiet Cherson spülte das Wasser Unmengen an Schlamm, der mit Schwermetallen belastet ist, über das Land. Betroffen sind von der Umweltkatastrophe Böden, die zu den fruchtbarsten in Europa gehören. Das Wasser hat aber auch viele seltene Tiere in den Tod gerissen und die Pflanzenwelt im Delta des Dnipro-Flusses verwüstet, worauf das ukrainische Umweltministerium und auch die Umweltorganisation Greenpeace hinwiesen.

 

Noch sind nicht alle Folgen dieses beispiellosen Desasters sichtbar. Aber die Probleme sind schon jetzt riesig. Und es kommen neue hinzu, weil sich etwa durch verwesende Kadaver von Tieren, durch überschwemmte Friedhöfe und durch zerstörte Kanalisation und Güllegruben Keime ausbreiten. Tausende Toiletten in Häusern, aber auch Kläranlagen sind geflutet.

Mediziner warnen, dass Seuchen wie Cholera entstehen können. Durch das verunreinigte Wasser seien Durchfallerkrankungen, Infektionen der Haut und der Augen zu erwarten. Zusätzlich verschmutzen Öl, Schmiermittel und andere giftige chemische Substanzen das Wasser.

Erschwert wird die Lage dadurch, dass Russland weite Teile des Gebiets Cherson durch seinen Krieg gegen die Ukraine besetzt hält. Rettungseinsätze für die von der Flut betroffenen Menschen sowie Sicherungsmaßnahmen für die Natur oder auch archäologische Ausgrabungsstätten sind wegen der Kampfhandlungen schwer zu organisieren.

Zwar sinkt momentan der Wasserstand. Aber noch immer steht etwa der nationale Naturpark im Unterlauf des Dnipro (Nyschnjodniprowskyj) im Schnitt zwei Meter unter Wasser. Spezialisten seien unterwegs, um die Wasserqualität zu messen und die Schäden aufzunehmen, teilte der ukrainische Minister für Umwelt und Naturressourcen, Ruslan Strilez, im Nachrichtenkanal Telegram mit. Die Ukraine habe 18 Kubikkilometer Wasser verloren durch das Auslaufen des Stausees. In der Region sei die Hälfte des Waldes von 55.000 Hektar verloren, so der Minister.

 

Rund 80.000 Hektar geschütztes Gebietes wurden „weggespült und mit ihm seltene Tierarten“, das entspreche etwa der Fläche Berlins, erklärt Strilez. 160.000 Tiere und 20.000 Vögel seien durch die Katastrophe in Gefahr. Das Hochwasser betrifft ein ganzes Ökosystem. Strilez befürchtet, die Region könnte sich in eine Wüste verwandeln. 30 Prozent der Natur im Gebiet Cherson seien in Gefahr zu verschwinden. Auch das Biosphärenreservat Schwarzes Meer rund 45 Kilometer südwestlich von Cherson ist betroffen.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach auch deshalb von der größten menschengemachten Umweltkatastrophe der letzten Jahrzehnte in Europa. Hunderttausende Menschen in der Region seien ohne „normalen Zugang“ zu Wasser. Selenskyj wirft Russland vor, den Staudamm vermint und gesprengt zu haben. Dagegen behauptet Kremlchef Wladimir Putin, der den größten Teil des Gebiets besetzt hält und die Region Cherson annektiert hat, die Ukraine selbst habe durch Beschuss mit Raketenwerfern die Staumauer zerstört.

All das ändert freilich nichts an der katastrophalen ökologischen Situation in der Region, die – neben allem menschlichen Leid durch Russlands brutalen Krieg – auf lange Zeit viele ernste Folgen nach sich zieht.

 

Die auf Naturschutz spezialisierte Nichtregierungsorganisation UNCG (Ukrainian Nature Conservation Group) spricht von russischem „Öko-Terror“ gegen die Schutzgebiete in der Region. Die Schäden für die Natur mit ihren einzigartigen Biotopen seien verheerend: seltene Ameisenpopulationen, Reptilien und Amphibien, Nistplätze für Vögel, aber auch Säugetiere seien vernichtet.

Der Lebensraum von 70 Prozent des weltweiten Bestands der Birkenmaus (Sicista loriger) ist laut UNCG überflutet und damit verloren, was nun zum Aussterben der Art führen könne. Auch die Hälfte der Population der Sandblindmaus (Spalax arenarius) sei zerstört, schreiben die Experten der Organisation in einem Bericht.

Greenpeace befürchtet in einer ersten Einschätzung, dass durch die Zerstörung des Kachowka-Damms Chemikalien, Gas, Öl und Benzin, die in Wohn-, Landwirtschafts-, Industrie- und Gewerbegebieten verwendet werden, in das Wasser der überfluteten Gebiete übergehen. Greenpeace-Recherchen auf der Grundlage von Satellitendaten hätten demnach ergeben, dass Ölraffinerien, Tankstellen, Heizkraftwerke und verschiedene Lagerhäuser überflutet wurden. Hinzu kommen mindestens 150 Tonnen Motoröl, die Berichten zufolge in den ersten Tagen der Katastrophe freigesetzt wurden.

Schon geringe Mengen dieser Stoffe reichen aus, um Böden und Gewässer zu verseuchen, und viele Menschen werden bis auf weiteres ohne Frischwasser auskommen müssen. Vor allem die Überflutung der Industriegebiete kann die größte Verschmutzung verursachen, die direkt aus dem Gebiet weggetragen und flussabwärts gespült wird und das Schwarze Meer und die Küstengebiete verschmutzt.

Während Präsident Selenskyj die Katastrophe mit den Folgen des Einsatzes einer „Massenvernichtungswaffe“ vergleicht, sind Wissenschafter um nüchterne Einschätzungen bemüht. Sie verweisen etwa darauf, dass die Explosion des Reaktors im Atomkraftwerk Tschernobyl 1986 noch viel schwerwiegendere Folgen hatte – ebenfalls auf Jahrzehnte.

Der Biologe Andrej Adrianow von der Russischen Akademie der Wissenschaften erklärt, das Wasser müsse erst weg sein, um das Ausmaß der Schäden zu messen. Untersucht werden müsse aber etwa der abgelagerte Schlamm auf den Böden. Vor allem die wirtschaftlichen Schäden seien hoch, weil Landwirte keinen Ertrag mehr erhielten. Das Gebiet gilt als Kornkammer der Ukraine.

Dennoch können sich die Böden nach Einschätzung des Experten Georg Guggenberger auch wieder erholen. „Böden sind Lebewesen, die sich heilen können“, sagte der Leiter des Instituts für Bodenkunde an der Universität Hannover der Deutschen Presse-Agentur. Voraussetzung sei, dass das ins Schwarze Meer abfließende Wasser aus dem Stausee die Erde nicht wegspüle. „Natürlich sind die jetzigen Ackerbaukulturen zerstört, überall da, wo es Überschwemmung gibt“, sagte Guggenberger.

Schadstoffe aus Kriegsmüll

„Prinzipiell sollten sich die Böden regenerieren, wenn das Wasser relativ rasch wieder abfließt. Wahrscheinlich muss auch mit großen Erosionserscheinungen gerechnet werden, was jetzt aber noch nicht absehbar ist.“ Das Ausmaß der chemischen Belastung sei noch nicht klar, aber auch diese könne wieder abgebaut werden.

Nach Darstellung des Wissenschaftlers fehlt nun die für den Anbau von Obst und Gemüse wichtige Bewässerung. Das Wahrzeichen der Region – die berühmten Wassermelonen – werde es etwa nicht mehr geben. Dagegen sei für Weizen und Sonnenblumen für die Speiseölgewinnung keine Bewässerung nötig. „Das sollte im kommenden Jahr zumindest eingeschränkt wieder funktionieren.“ Guggenberger sieht aber noch ein gravierendes Problem, auch wenn eines Tages die Kämpfe im Kriegsgebiet enden. „Die größte Gefahr sehe ich aber in der Freispülung der vergrabenen Minen, die jetzt mit dem Wasser überall hin transportiert werden können.“

Weite Gebiete des Landes sind nach Kriegshandlungen quasi Müllhalden für Kriegsgeräte und Munition. Nun werden in der Region um den Staudamm durch Munition und zerstörte Industrieanlagen kontaminierte Gebiete überflutet.

Wenn Munition unter Wasser durchrostet, werden Schwermetalle und giftige Sprengstoffe frei, die sich über Jahrzehnte auswirken können. Vor allem im Süden der Ukraine könnte das folgenschwer sein. Die schlechte Qualität des Wassers für die Bewässerung wiederum drohe, den landwirtschaftlichen Anbau sowie die Nahrungsmittelproduktion zu beeinträchtigen. Verbreitet vom Wasser lagern sich Schadstoffe in Böden und Sedimenten ab und gelangen so in die Nahrungskette. Auch dieser giftige Cocktail wird die Gewässer und das Grundwasser noch jahrzehntelang massiv belasten.

Nach der Staudamm-Zerstörung stand auch das Kernkraftwerk Saporischschja erneut unter besonderer Beobachtung. Dieses liegt am oberen Ende des Staussees und wird über ein daraus gespeistes Reservoir mit Wasser für die Kühlsysteme versorgt. Diese sei trotz des stark gefallenen Pegels für einige Monate gewährleist.

Laut IAEA sei in dem Teich und in anderen Bereichen des KKW genug Wasser vorhanden, um die stillgelegten Reaktoren und die abgebrannten Brennstäbe für mehrere Monate zu kühlen, selbst wenn infolge der Zerstörung des Staudamms schon bald kein Wasser mehr aus dem sinkenden Dnipro-Reservoir gepumpt werden könnte.

APA / DPA / Red

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